Die zweite Entscheidung zum „Corona-Strafrecht“, der LG Lüneburg, Beschl. v. 08.09.2022 – 22 Qs 55/22 – verhält sich noch einmal zu § 279 StGB.
Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, gegen die Angeschuldigte einen Strafbefehl wegen des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses gem. § 279 StGB zu erlassen und eine Geldstrafe festzusetzen. Sie wirft der Angeschuldigten ihr vor, über ein Internetportal gegen Entgelt eine auf ihren Namen lautende vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung einer ehemaligen Ärztin erworben und anschließend dem Gesundheitsamt Harburg vorgelegt zu haben, um den Anschein einer Impfunfähigkeit zu erwecken. Dabei sei der Angeschuldigten bewusst gewesen, dass die vorläufige Impfunfähigkeit ohne eine vorhergehende medizinische Untersuchung durch die ausstellende Ärztin attestiert wurde.
Die vorgelegte Bescheinigung ist mit „Gutachten zur Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit“ überschrieben. Weiter heißt es darin:
„Aufgrund meiner ärztlichen Einschätzung und Bewertung komme ich nach freiem Ermessen zu folgender privatgutachterlichen Einschätzung:
Bis zum Ausschluss einer möglichen schwerwiegenden Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in der EU zugelassenen Impfstoffe gegen Covid-19 (…) durch eine fachärztliche allergologische Abklärung soll bei I.K. keine Impfung gegen das SARS-CoV-2-Virus erfolgen.
Bis zur Vorstellung und Abklärung durch ein allergologisches Zentrum und/oder abschließende Beurteilung durch einen Amtsarzt ist I.K. daher vorläufig impfunfähig.
Diese Bescheinigung gilt bis zur o.g. Abklärung, spätestens bis zum 08.09.2022.“
Das AG hat den Erlass des Strafbefehls gem. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO mit der Begründung abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die beim LG keinen Erfolg hatte:
1. Die Bescheinigung der ehemaligen Ärztin Dr. med. pp. vom 08.03.2022 stellt nach Aktenlage kein unrichtiges Gesundheitszeugnis dar.
Gemäß § 279 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277, 278 StGB bezeichneten Art Gebrauch macht. Gemäß § 278 StGB gilt: Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Ein Zeugnis im Sinne dieser Vorschrift meint dabei insbesondere eine Bescheinigung über den gegenwärtigen Gesundheitszustand eines Menschen. Erfasst sind dabei auch die von einem Arzt ausgestellten Krankenscheine und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (vgl. nur Heine/Schuster in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 277 Rn. 2). Nicht erforderlich ist, dass die Bescheinigung eine Diagnose enthält (OLG Stuttgart, Urteil vom 25.09.2013 – 2 Ss 519/13). Unrichtig ist das Zeugnis im Sinne des § 278 StGB auch dann, wenn die miterklärten Grundlagen der Beurteilung in einem wesentlichen Punkt nicht der Wahrheit entsprechen. Dies ist etwa in der Regel der Fall, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde (vgl. nur Fischer StGB, 68. Aufl. 2021, § 278 Rn. 4 m.w.N.). Das Vertrauen in das ärztliche Zeugnis beruht nämlich darauf, dass eine ordnungsgemäße Informationsgewinnung stattgefunden hat; ihre Vornahme wird konkludent miterklärt (vgl. Heine/Schuster, aaO § 278 Rn. 2, vgl. auch Schuhr in Spickhoff Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, StGB § 278 Rn. 11). Das Unterlassen einer Untersuchung, die eine zusätzliche Beurteilungsgrundlage ergeben hätte, macht aber ein Zeugnis noch nicht unrichtig; es kommt darauf an, welches Maß an Genauigkeit im Einzelfall erforderlich gewesen wäre (vgl. nur Fischer aaO). Welche Form der Untersuchung erforderlich und so konkludent miterklärt wird, ist demnach einzelfallabhängig und nach medizinischen bzw. medizinrechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden.
Gemessen daran stellte die vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung der ehemaligen Ärztin Dr. med. pp. vom 08.03.2022 nach Aktenlage kein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen im Sinne des § 279 StGB dar.
Denn es wurde hierin kein Gesundheitszustand des Angeschuldigten bescheinigt. Die ausstellende Ärztin hat lediglich erklärt, dass sie nach freiem Ermessen zu der Einschätzung komme, dass bis zur Abklärung, ob bei der Angeschuldigten eine mögliche schwerwiegende Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in der EU zugelassenen Impfstoffe gegen COVID-19 bestehe, keine Impfung erfolgen solle und die Angeschuldigte daher vorläufig impfunfähig sei. Aus der gewählten Formulierung ergibt sich gerade nicht, dass bereits eine Untersuchung stattgefunden hat. Der „vorläufigen Unfähigkeitsbescheinigung“ lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass eine ärztliche Abklärung noch erfolgen müsse, um ausschließen zu können, ob Bestandteile des jeweils zu verabreichenden Impfstoffs gegen Covid-19 eine allergische Reaktion bei der Angeschuldigten auslösen können, weshalb das „Gutachten“ auch lediglich von einer vorläufigen Impfunfähigkeit spricht.
Das „Gutachten“ ist auch nicht unrichtig, da die darin getroffene Aussage, dass keine Untersuchung stattgefunden hat, der Wahrheit entspricht.“