Und heute kommt dann das Programm, was ich eigentlich schon gestern bringen wollte, nämlich noch einmal Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem „Einschlag“.
Ich beginne mit dem VerfGH Saarland, Beschl. v. 08.11.2022 – Lv 13/22 -, den mir der Kollege Gratz, der den Beschluss „erstritten“ hat, geschickt hat (hier „geht“ es zu dem Kollegen).
Ergangen ist der Beschluss in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Mandanten des Kollegen durch einen Beschluss des AG. Die gegen den Beschluss erhobene Beschwerde hat das LG. Dagegen ist Verfassungsbeschwerde erhoben. Folgender Sachverhalt:
Der beruflich als Busfahrer und in der Freiwilligen Feuerwehr seines Heimatortes ehrenamtlich tätige Angeschuldigte fuhr mit einem von ihm gesteuerten Linienbus. Er soll einen an einer verengten Straßenstelle verbotswidrig geparkten PKW bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen wurde im Bereich der Ecke des rechten hinteren Kotflügels und des Radkastens ein rund 40 cm hoher Streifschaden festgestellt. Lackanhaftungen fehlten. Nach den polizeilichen Feststellungen fanden sich dort lediglich „aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen“. Eine Spurensicherung wurde nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 EUR geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und – was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen ist – die Reparaturrechnung nachreichen.
Zeuginnen und Zeugen haben angegeben, das Unfallereignis akustisch und optisch bemerkt und gesehen zu haben, dass sich der Beschwerdeführer aus dem Busfenster in Richtung des geparkten Fahrzeugs gebeugt habe, dann jedoch weitergefahren sei. Rund eine Stunde später wurde der Beschwerdeführer festgestellt. An dem Linienbus wurde ein – längerer, aus der Farbbildaufnahme allerdings nicht klar zu erkennender – Streifschaden festgestellt. Der Beschwerdeführer bestritt, einen Zusammenstoß mit dem geparkten Fahrzeug bemerkt zu haben.
Die Staatsanwaltschaft hat — zunächst ohne Angabe eines bestimmten Strafzumessungsantrags, was später auf richterliche Beanstandung hin korrigiert wurde — den Erlass eines Strafbefehls wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und zugleich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das Amtsgericht Saarbrücken hat beiden Anträgen stattgegeben. Der Beschwerdeführer hat gegen den ihm zugestellten Strafbefehl Einspruch erhoben. Die gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erhobene Beschwerde hat das Landgericht Saarbrücken mit der Begründung verworfen, es sei „nichts dagegen zu erinnern, dass das Amtsgericht bei seiner, zum jetzigen Zeitpunkt zwangsweise vorläufigen Betrachtung die von der Polizei geschätzte Schadenshöhe von 3.000 € seiner Entscheidung zugrunde gelegt“ habe. Die Staatsanwaltschaft betreibt nunmehr die Vollstreckung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.
Der VerfGH Saarland hat auf die Verfassungsbeschwerde hin eine einstweilige Anordnung erlassen und die Wirksamkeit der Beschlüsse des AG und LG ausgesetzt. Das begründet es u.a. wie folgt:
„b) Nach § 111a Abs. 1 S. 1 StPO darf eine Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn „dringende Gründe“ für die Annahme vorliegen, dass die Fahrerlaubnis — im Streitfall nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB wegen des Nach-weises eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort bei Verursachung eines bedeutenden Sachschadens — entzogen werden wird.
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben Staatsanwaltschaft, Amtsgericht und Landgericht nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise geprüft. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage.
Deren Nachprüfung ist zwar grundsätzlich Sache tatrichterlicher Würdigung. Fehlen aber valide Feststellungen oder werden in einem frühen Stadium eines Ermittlungs- und Strafverfahrens notwendigerweise unsichere Einschätzungen einem Grundrechtseingriff zugrunde gelegt, so müssen sie nicht nur einfachrechtlich, sondern auch von Verfassungs wegen auf feststehenden hinreichenden oder, wie in den Fällen des § 111a StPO „dringenden“ Verdachtsgründen beruhen. Zugleich müssen — auch in der Begründung staats-anwaltschaftlicher Anträge und gerichtlicher Entscheidungen — feststehende Umstände gewürdigt werden, die die Überzeugungskraft vorläufiger und ungewisser Annahmen einer zu erwartenden Maßregel zu erschüttern geeignet sind (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis BVerfG 08.11.2017 2 BvR 2129/16). Dem werden die angegriffenen Entscheidungen — im Verfahren und nach gegenwärtigem Sachstand auch im Ergebnis — nicht gerecht.
Es ist nicht erkennbar, dass Staatsanwaltschaft, Amts- und Landgericht solchen sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen sind und bestehende, nahe liegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützen sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen ist zwar nicht unzulässig. Das ist indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens — dessen Bestimmung in den Grenzen willkür-freien Verhaltens fachgerichtliche Aufgabe ist — liegt, oder wenn — zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis — Anhaltspunkte vorliegen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen. Aus welchen Gründen sich die Staatsanwaltschaft mit dem Ausbleiben einer solchen — zunächst angeordneten — Feststellung begnügt hat, ist unerfindlich.
Insoweit kann dahinstehen, ob sich aus den Lichtbildern des Busses überhaupt ein kompatibler Streifschaden ergibt und wie die Divergenzen der Schadenbereichshöhen — 40 bis 74 cm bei dem PKW, 44 bis 80 cm bei dem Bus — zu erklären sein können. Es kann auch dahinstehen, was mit „Schmutzanhaftungen infolge der regennassen Witterung“ gemeint sein soll und wie sich innerhalb der kurzen Zeit zwischen dem (angezeigten) Unfall-geschehen und der polizeilichen Feststellung „Verschmutzungen“ eines frischen Blechschadens durch „Regen“ ergeben haben können.
Nicht ohne Weiteres erklärlich ist auch, dass bei einem Blechschaden dieses angeblichen Schadenausmaßes mit — soweit ersichtlich — Lackabschürfungen auf einer Höhe von 34 cm keinerlei Lackanhaftungen des überwiegend rot lackierten Busses verblieben sein sollen.
Nicht ohne Weiteres erklärlich ist auch, warum sich die Geschädigte über nunmehr mehr als ein halbes Jahr hinweg nicht gemeldet und die Reparatur-rechnung vorgelegt hat.
Vor allem nämlich haben die Strafverfolgungsbehörden auf der Hand liegen-de Ermittlungen unterlassen, die ihren Grundrechtseingriff hätten rechtfertigen — oder untersagen — können: Die Staatsanwaltschaft hat zwar die zu-ständige Polizeibehörde unter Hinweis auf die Möglichkeit zwangsweiser Vorführung aufgefordert, die Zeugen nachzuvernehmen, sich dann aber da-mit begnügt, dass die Geschädigte sich nicht gemeldet habe und, was nicht näher erläutert ist, nicht erreichbar gewesen sein soll. Vor allem aber hätte mehr als nahe gelegen, die Halterin und Selbstversichererin des Linienbusses, die a GmbH, die — bislang nicht beschieden — Akteneinsicht erbeten hatte, zu befragen, ob dort eine Schadenanzeige und ein Verlangen nach Übernahme näher belifferter Instandsetzungskosten eingegangen ist. Dazu hätte ein Telefonat genügt. Vor diesem Hintergrund liegt — beim gegenwärtigen Stand der Dinge — ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eher nahe.
3. Die somit gebotene Abwägung der Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung mit jenen, die bei ihrem Ausbleiben einträten, fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.
Im letzteren Fall wäre dem Beschwerdeführer für eine geraume Zeit die Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr entzogen. Er würde damit voraussichtlich die Möglichkeit beruflicher Betätigung als Busfahrer und voraussichtlich auch Möglichkeiten zur Fortführung seines — gemeinwohlwichtigen — Ehrenamtes verlieren, ohne dass das rückwirkend auszugleichen wäre. Sollte sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet erweisen, könnten sowohl die vorläufige als auch eine etwaige endgültige Maßregel weiterhin ergriffen werden, Eine Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs durch zwischenzeitliche schwere Verkehrsverstöße des Beschwerdeführers ist anders als in Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Fahrens in fahruntüchtigem Zustand — nicht zu befürchten; Feststellungen zu einer verkehrsrechtlichen einschlägigen Auffälligkeit des Beschwerdeführers fehlen. Es kommt hinzu, dass § 142 Abs. 1 StGB im Wesentlichen dem privaten Interesse an der Sicherung von Schadenersatzansprüchen dient, das, wie das Verhalten der angeblich Geschädigten zeigt, im Streitfall nicht besonders schutzwürdig erscheint.“
Nicht so schön für StA, AG und LG, oder: Es zeichnet sich eine Klatsche ab. Und für den Verteidiger ein schöner Erfolg, der zeigt, dass man eben die Flinte nicht zu früh ins Korn werden darf. Allerdings: In Fällen der Entziehung wegen einer Trunkenheitsfahrt besteht wohl wenig(er) Aussicht auf einen solchen Erfolg. Aber immerhin. Man kann es ja mal versuchen.
Tolle Entscheidung, die Vorgaben werden nur leider im Alltag bei Amts- und Landgerichten regelmäßig nicht beachtet. Beschwerden gegen 111a- Beschlüsse sind (hier) meistens Rohrkrepierer…
Super Arbeit!
Ich hatte leider weniger das Glück mit SA , Richterin und dem gerechtem Verfahren .
Unfall tatsächlich nicht bemerkt. Lackschaden 2750€ davon 1800€ Lohnkosten 450€ Materialkosten und Rest Mehrwertsteuer. Unfall wurde innerhalb von einer Woche bei der Versicherung gemeldet. Unfallkosten wurden übernommen.
Habe nach 69 StGb Führerschein abgegeben. Im Strafbefehl hieß es 6 Monate keine neue Erteilung.
Einspruch eingelegt. Das Resultat: 9 Monate Gerichtsverfahren. Danach für schuldig erklärt und zusätzlich 3 Monate Sperre.
Nächste Woche sind 11 Monate rum. Führerschein vor 3 Monaten beantragt und es ist noch unklar wann der Antrag bearbeitet wird.
Einfach Katastrophe!!
Und dass bei vollen Unschuld.
Unglaublich und nicht real.
Habe dienstaufichtbeschwerde gegen Richterin erhoben. Doch hilft es mir gerade nicht weiter.
Nie wieder vertrauen an das Rechtsystem
Das ist – leider nur – Ihre Sicht. Das Gericht scheint vom Gegenteil überzeugt gewesen zu sein. Sorry, aber das ist nun mal so bei unabhängigen Gerichten, die wir in unserem Rechtssystem zum Glück haben.