Heute dann ein Tag mit OWi-Entscheidungen.
Ich beginne mit dem VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.07.2022 – VGH B 30/21, auf den ich ja neulich schon hingewiesen hatte. Dem Verfahren lag eine Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde. Gemessen worden ist mit dem Messgerät Poliscan Speed M1. Der Betroffene hatte die Unverwertbarkeit der Messung wegen der Nichtspeicherung der Rohmessdaten geltend gemacht. Das OLG Koblenz hat seine Rechtsbeschwerde gegen die Verurteilung durch das AG verworfen. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte.
Der VerfGH begründet umfangreich – und m.E. unzutreffend. Die Verwertung eines Messergebnisses, dessen der Messung zugrundeliegende Rohmessdaten nicht zum Zwecke der nachträglichen Überprüfbarkeit gespeichert worden sind, verstößt nach seiner Auffassung nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren.
Ich versuche mal, die umfangreiche Begründung zusammen zu fassen: Der VerfGH meint, die Gewährleistung eines fairen Verfahrens stelle (nur) verfassungsrechtliche Mindestanforderungen auf. Es bestünden „Spielräume“, die durch die Gerichte auszufüllen sind. Der Nutzen der nicht gespeicherten Rohmessdaten für eine nachträgliche Überprüfung des Messergebnisses sei im technisch-fachwissenschaftlichen Schrifttum ohnehin „umstritten“. Gleiches gelte für die obergerichtliche Rechtsprechung. Es könne mit ihnen „nur die rechnerische Richtigkeit des Messergebnisses plausibilisiert werden“. Zudem sei die Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung durch das Zulassungsverfahren des jeweiligen Messgerätes vorverlagert. Dies werde flankiert durch gesetzlich vorgegebene Eichfristen, die eine regelmäßige, wiederkehrende Prüfung der Funktionsfähigkeit des Messgerätes gewährleisteten. Dem Betroffenen stehe zudem ein Antrag auf Befundprüfung gem. § 39 Abs. 1 MessEG i.V.m. § 39 MessEV offen. Auch wenn hierdurch der verfahrensgegenständliche Messvorgang nicht wiederholt werden könne und der Messvorgang damit im Nachhinein nicht nachprüfbar werde, lassen diese Prüfungen nach Auffassung des VerfGH den Schluss zu, dass bei dem Messgerät keine Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind. Außerdem werde die fehlende Überprüfbarkeit zusätzlich durch den Toleranzwert kompensiert.
Anders in der Frage das VerfGH Saarland, Urt. v. 05.07.2019 – Lv 7/17. Nach seiner Auffassung ist der Umstand der Nichtspeicherung der Rohmessdaten unvereinbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren und führt zur Unverwertbarkeit. Das steht m.E. auch im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG (Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18), wonach es für die Frage der Erforderlichkeit der Daten entscheidend auf die Sichtweise des Betroffenen und der Verteidigung ankommt, nicht auf diejenige der Bußgeldbehörde oder des Gerichts.
Das letzte Wort in dieser Frage ist aber noch nicht gesprochen. Denn es steht noch immer die Entscheidung des BVerfG im Verfahren 2 BvR 1167/20 aus, das auch einen „Rohmessdatenfall“ zum Gegenstand hat. Es bleibt also spannend.
Im Übrigen: Der Volltext der Entscheidung ist auch deshalb lesenswert, weil der VerfGH Stellung nimmt zur der Frage, welche Rechtsmittel der Betroffene ggf. im vorbereitenden Verfahren erheben muss. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) gegen die Nichtgewährung der Einsicht in die Rohmessdaten darf auf keinen Fall versäumt werden.
Juristen sind genial: sie kreieren ein technisch von vornherein fragwürdiges „standardisiertes Messverfahren“ und bügeln anschließend jahrzehntelang alle Einwände unter Bezugnahme auf eben dieses standardisierte Messverfahren ab.
So gut, so schlecht. Es sollte aber auch Juristen bekannt sein, dass die eso-Einseitensensoren (standardisiertes Messverfahren) in seltenen Fällen infolge LED-Lichts Messfehler weit außerhalb der Verkehrsfehler erzeugen können und das Messystem LEIVTEC XV wegen solcher massiver Messfehler vom Markt genommen worden ist. Leivtec XV3 war also solange standardisiert, bis es das dann eben nicht mehr war.
Es ist also allgemein bekannt, dass das standardisierte Messverfahren zwar einen sinnvollen Ansatz darstellt, aber eben nicht funktioniert. Wenn OLG und Verfassungsgerichten trotzdem nichts weiter einfällt, als den Wunsch nach technischer Nachvollziehbarkeit unter Bezugnahme auf ein nicht funktionierendes juristisches Konstrukt als unsinnig zu beurteilen, ist das mehr als peinlich. Unabhängig davon, ob die Richter einfach nur technisch inkompetent sind oder die technischen Aspekt bewusst außer Acht lassen, um einen nicht sinnvollen Status Quo zu erhalten.
Es wäre doch so einfach: wenn eine Messung vorgerichtlich anhand von Rohmessdaten geprüft werden könnte und ein Betroffener dies unterlässt und einfach diffus behauptet, es habe etwas nicht gestimmts, wäre es vollkommen i.O. ihn unter Bezugnahme auf das standardisierte Messverfahren zu verurteilen. Er hätte ja die Möglichkeit gehabt, konkret zu Mängeln vorzutragen.
Diesen konketen Vortzrag fordert man auch heute, nimmt den Betroffenen aber die Möglichkeit, überhaupt vortragen zu können, weil sie die dafür erforderlichen Daten/Unterlagen nicht erhalten. So stelle ich mir Rechtspechung in einer Bananenrepublik vor, aber nicht in einem Rechtsstaat.
und warum bekomme ich jetzt den „Segen“ ab….