Und die zweite Entscheidung aus Karlsruhe hat dann auch mit Haft zu tun. Und: Ich hatte das Posting zu dem BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – mit „Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂 “ abgeschlossen (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg). Die Frage ist/war berechtigt, denn hier habe ich dann mit dem BVerfG, Beschl. v. 10.12.2019 – 2 BvR 2061/19 – gleich die nächste Entscheidung zur Haft, die in dieselbe geht.
Die dem Beschluss zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde betrifft nämlich die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gemäß § 455 StPO. Der Verurteilte wurde mit Urteil des LG Essen vom 08.06.2017 wegen Untreue in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Auf die hiergegen erhobene Revision stellte der BGH das Verfahren teilweise ein. Zugleich wies er darauf hin, dass der Wegfall der von der Einstellung betroffenen Einzelstrafe von sechs Monaten den Ausspruch über die Gesamtstrafe unberührt lasse. Im Übrigen hat der BGH die Revision als unbegründet verworfen.
Mit Schreiben vom 28.08.2018 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Verurteilten zum Strafantritt binnen eines Monats nach Zustellung. Unter dem 14.09.2018 bat der Beschwerdeführer um einen dreimonatigen Aufschub der Strafvollstreckung aufgrund der Notwendigkeit einer psychologischen Behandlung. Mit Schreiben vom 19.09.2018 gab die Staatsanwaltschaft Essen dem Verurteilten daraufhin auf, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Ein psychiatrisches Zusatzgutachten des Gesundheitsamtes kam zu dem Ergebnis, dass sich beim Verurteilten psychopathologisch alle Symptome einer mittelgradigen depressiven Störung gefunden hätten. Ob zusätzlich ein demenzieller Abbau stattfinde oder eine depressive Pseudo-Demenz vorliege, könne derzeit nicht entschieden werden. Nach Ansicht des Gutachters war der Verurteilte nicht haftfähig. Das wurde der Staatsanwaltschaft mitgeteilt. Unter dem 05.04. 2019 gab der psychiatrische Zusatzgutachter eine erneute Stellungnahme ab und wies darauf hin, dass seines Erachtens ein Verfall in Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO vorliege. Dabei helfe der Verweis auf das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg wenig, dessen diagnostische und therapeutische Kapazitäten für den vorliegenden Fall zu limitiert seien.
Mit Schreiben vom 13.05.2019 übermittelte dann die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne der Staatsanwaltschaft Essen eine Stellungnahme ihres Anstaltsarztes, nach der die psychiatrischen Diagnosen aus den amtsärztlichen Stellungnahmen nicht von dem Gewicht zu sein schienen, dass der Verurteilte dauerhaft haftunfähig sei. Allerdings könnten die Auswirkungen der vorhandenen Demenz auf die Alltagsfähigkeiten des Verurteilten allein aus dem Gutachten und den beiliegenden Befunden nicht sicher abgeschätzt werden.
Am 17.05.2019 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Verurteilten zum Strafantritt bis zum 29.05.2019. Mit angegriffener Entscheidung vom 12. 07.019 teilte die Staatsanwaltschaft Essen ihm mit, dass kein Anlass bestehe, den beantragten Strafaufschub zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 455 StPO lägen vor dem Hintergrund der Ausführungen des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne nicht vor. Die hiergegen erhobenen Einwendungen wies das LG Essen mit Beschluss vom 15.08.2019 zurück. Die gegen den Beschluss des Landgerichts Essen erhobene sofortige Beschwerde vom 26.08.2019 verwarf das OLG Hamm mit Beschluss vom 05.11.2019 als unbegründet.
Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom 18.11.2019 wurde der Verurteilte von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17.05.2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte der sich daraufhin nach seinem Vortrag am 21.11.2019 zum Strafantritt.
Das BVerfG hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des LG Essen nach Maßgabe des Beschlusses des BGH vom 20.06.2018 – 4 StR 561/17 – bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit BVerfG, Beschl. v. 10.12.2029 – – 2 BvR 2061/19 – in der Hauptsache ausgesetzt:
„bb) Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Form eines Verstoßes gegen die auch im Zusammenhang mit der Entscheidung über den Strafaufschub bestehende Pflicht zur zureichenden Sachaufklärung (siehe BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2017 – 2 BvR 2772/17 -, Rn. 12) nicht ausgeschlossen. Denn es erscheint jedenfalls möglich, dass die Staatsanwaltschaft Essen und die Fachgerichte auf der Basis der von ihnen herangezogenen Unterlagen nicht hinreichend in der Lage waren, eine Abwägung zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und den Grundrechten des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorzunehmen.
b) Die somit nach § 32 BVerfGG gebotene Abwägung fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.
aa) Unterbliebe die einstweilige Anordnung, erweist sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, kann in der Zwischenzeit die Freiheitsstrafe aus dem landgerichtlichen Urteil vollstreckt werden. Damit wäre ein erheblicher, nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>), das unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht hat (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>), sowie gegebenenfalls ein nicht unerheblicher Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbunden.
bb) Erginge die einstweilige Anordnung, wird die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall kann zwar die oben genannte Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit ist jedoch nicht zu besorgen, da dem öffentlichen Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe auch nach einer Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde – wenn auch zeitlich verzögert – noch Rechnung getragen werden kann.
3. Wegen der angesichts der möglichen Gesundheitsgefahren besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung der anderen Beteiligten des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).“
Also doch nicht so selten 🙂 . Und dass die Außervollzugsetzung berechtigt war – übrigens mehrfach verlängert -, zeigt der BVerfG, Beschl. v. 05.07.2022 – 2 BvR 2061/19. In dem hat das BVerfG die Beschlüsse des LG Essen/OLG Hamm und die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft aufgehoben.