Kein Rechtsmittel mehr gegen Erstreckungsentscheidung?, oder: Fehlentscheidung des OLG Bremen

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Heute ist Freitag und damit stehen RVG-Entscheidungen an. Dazu bringe ich heute zwei Entscheidungen, die sich mit den Gebühren des Pflichtverteidigers befassen.

An der Spitze steht der – m.E. falsche – OLG Bremen, Beschl. v.23.04.2020 – 1 Ws 9/20. Es geht um eine Frage in Zusammenhang mit der Erstreckung, nämlich um die Frage der Zulässigkeit eines Rechtsmittel gegen die Erstreckungsentscheidung.

Im entschiedenen Fall war der Kollege dem Verurteilten am 13.01.2019 als Verteidiger gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beigeordnet. Mit Urteil vom 31.05.2019 ist der Verurteilte von einer Strafkammer des LG u.a. wegen besonders schweren Raubes verurteilt worden; das Urteil wurde am 08.07.2019 rechtskräftig. Dieser Entscheidung liegen mehrere zu unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander verbundene Verfahren zu Grunde. Vorgenommen wurden die Verbindungen zum Teil bereits im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft, für einen anderen Teil der hinzuverbundenen Verfahren vom zunächst zuständigen AG Bremen-Blumenthal und schließlich von der Strafkammer selbst.

Am 14.07.2019 beantragte der Kollege Kostenfestsetzung und führte hierbei insgesamt 23 Verfahren auf, bei denen es sich auch um Verfahren handelte, für die der Verteidiger allein die Vorgangsnummern der Polizei benannte. Bei der Festsetzung der Kosten blieben diese Verfahren unberücksichtigt. Der Kollege hat dann die Erstreckung der Wirkung der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG auf die in seinem Kostenfestsetzungsantrag benannten 23 Verfahren beantragt. Das LG hat die Erstreckung auf ein (weiteres) Verfahren ausgesprochen und den Antrag im Übrigen als unbegründet abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Verteidiger mit seiner Beschwerde. Die hatte beim OLG keinen Erfolg. Die – überraschende – Begründung des OLG:

„Die Beschwerde leidet bereits den Mangel der Zulässigkeit, denn ein solches Rechtsmittel gegen die Erstreckungsentscheidung als Zwischenentscheidung im Kostenfestsetzungsverfahren sieht das RVG nicht vor. Durch das 2. KostRMoG vom 23.07.2013 wurde dem § 1 RVG ein neuer Absatz 3 angefügt. Darin wird klargestellt, dass im RVG enthaltene Vorschriften über die Erinnerung und die Beschwerde den Regelungen über eine Erinnerung und Beschwerde in den für das jeweilige Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vorgehen. Nur wenn eine spezielle Vorschrift des RVG wegen einer Erinnerung oder einer Beschwerde auf Vorschriften eines anderen Gesetzes verweist und diese für entsprechend anwendbar erklärt, kann auf diese zurückgegriffen werden (Hartung/Schons/Enders/Enders, 3. Aufl. 2017, RVG § 1 Rn. 154, 155). Für die StPO enthält etwa § 52 Abs. 4 RVG einen solchen Verweis. Fehlt es daran, ist ein Rückgriff auf das Rechtsmittelsystem der jeweiligen Verfahrensordnung nicht zulässig (so für § 46 Abs. 2 RVG: BFH, Beschluss vom 15. Juni 2015 – III R 17/13 –, juris Rn 12; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. September 2014 – III-1 Ws 247/14 –, juris Rn 8; OLG Celle, Beschluss vom 25. Juni 2012 – 2 Ws 169/12 –, juris Rn 7). Da das RVG gegen Entscheidungen über Anträge nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG keinen besonderen Rechtsbehelf vorsieht und auch nicht auf das System der StPO verweist, ist eine iso-lierte Beschwerde gegen die Erstreckungsentscheidung nicht zulässig (a.A.: OLG Celle, Beschluss vom 04.09.2019 – 2 Ws 253/19 – Rn. 10, juris; zu § 48 Abs. 5 Satz 3 a.F.: KG Berlin, Beschluss vom 27.09.2011 – 1 Ws 64/10 – Rn. 2, juris m.w.N.).“

Wie gesagt: Die Entscheidung ist falsch. Sie widerspricht der völlig h.M. in dieser Frage. Die geht nämlich davon aus, dass gegen die Erstreckungsentscheidung das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben ist. So hat es auch das OLG Celle (a.a.O.) gesehen. Das verwendet auf die Frage zutreffend nur einen Satz: „Die Beschwerde ist gem. § 304 Abs. 1 StPO zulässig.“

Die falsche, nicht nachvollziehbar Auffassung des OLG Bremen lässt sich nur mit einem Missverständnis des durch das 2. KostRMoG eingeführten § 1 Abs 3 RVG verstehen. Sinnd und zweck der Einführung war die Klärung einer Streitfrage im Sozialrecht. Voraussetzung für die Anwendung des § 1 Abs. 3 RVG ist aber grundsätzlich, dass sowohl das RVG als auch eine andere Verfahrensordnung Geltung für die gleiche Verfahrensarten beanspruchen (Riedel/Sußbauer/Pankatz, RVG, § 1 Rn 179a). Ist das nicht der Fall, verbleibt es bei dem in deren anderen Verfahrensordnung vorgesehenen Rechtsmittel. Der Neuregelung lässt sich nicht entnehmen, dass dann, wenn das RVG kein Rechtsmittel vorsieht, ein solches ausgeschlossen ist. Das Gegenteil lässt sich auch nicht dem vom OLG Bremen angeführten Zitat „Hartung/Schons/Enders/Enders, 3. Aufl. 2017, RVG § 1 Rn. 154, 155“ entnehmen.

Selbst wenn das OLG mit seiner Ansicht zur Auslegung des § 1 Abs. 3 RVG Recht hätte, wäre die Entscheidung falsch. Denn bei der Entscheidung über die Erstreckung handelt es sich nicht um eine gebühren-/kostenrechtliche i.S. des RVG, sondern um eine Annex-Entscheidung zur Pflichtverteidigerbestellung, die vom Erkenntnisgericht und nicht vom „Gebührengericht“, ggf. dem UdG, zu treffen ist (anschaulich LG Freiburg RVGreport 2006, 183 = RVGprofessionell 2006, 93). Letzteres ist an die Entscheidung, die die vergütungsrechtlichen Folgen der Pflichtverteidigerbestellung – nämlich: Gesetzliche Gebühren des Pflichtverteidigers nach § 45 RVG aus der Landeskasse – auf die vor der Bestellung in verbundenen Verfahren erbrachte Tätigkeiten erstreckt. Gegen die Entscheidung ist dann mit dem in Zusammenhang mit der Pflichtverteidigerbestellung bestehenden Rechtsmitteln der StPO vorzugehen. Die Rechtsmittel des § 56 RVG spielen hier keine Rolle. Etwas anderes folgt auch nicht aus den vom OLG zu § 46 Abs. 2 RVG zitierten Gerichtsentscheidungen bzw. diese stehen dazu nicht in Widerspruch. Denn in § 46 Abs 2 RVG geht es um die (bindende) (Vorab)Feststellung der Erforderlichkeit von Auslagen (§ 46 Abs. 1 RVG). Das ist eine gebührenrechtliche Frage, die sich nach dem RVG beurteilt, so dass insoweit das Rechtsmittel des RVG greifen würde, wenn das RVG für diese Frage ein Rechtsmittel vorsehen würde. Da das nicht der Fall ist, ist die Entscheidung nach § 46 Abs. 2 RVG unanfechtbar.

Ich hoffe nur, dass die Auffassung vereinzelt bleibt. Denn sonst wären die Erstreckungsentscheidung der Überprüfung entzogen. Dass der Gesetzgeber das gewollt hat, vermag ich nicht zu erkennen. Beim OLG Bremen scheint man schlauer zu sein. M.E. trügt aber der Schein.

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