Wie der BGH die Urteilsgründe lesen möchte, oder: Handwerkliche Fehler

Und als dritte Entscheidung zu dem Themenkreis „Urteilsgründe“ dann der BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 37/19. Das ist mal wieder eine Entscheidung, in der der BGH grundsätzlich zu den Anforderungen an die Urteilsgründe Stellung nimmt. Allerdings dieses Mal nicht nur mit einem erhobenen Zeigefinger „Passt auf!“ und dann mit einem „reich gerade noch für die Anforderungen“, sondern dieses mal wird das Urteil des LG Kaiserslautern, das den Angeklagten nach 104 Hauptverhandlungstagen wegen Betruges verurteilt hatte wegen handwerklicher Fehler aufgehoben:

„1. Das Urteil hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das – nach 104 Hauptverhandlungstagen und einer Hauptverhandlungsdauer von über drei Jahren ergangene – Urteil leidet bereits an grundlegenden Mängeln in der Darstellung und entspricht nicht den Anforderungen des § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO. Eine revisionsrechtliche Nachprüfung der Verurteilung des Angeklagten ist dem Senat anhand der vorgelegten Urteilsgründe nicht möglich.

aa) Zur Abfassung von Urteilsgründen hat der Bundesgerichtshof bereits vielfach entschieden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 – 3 StR 486/17), dass nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Für die revisionsrichterliche Überprüfbarkeit ist eine geschlossene und nachvollziehbare Darstellung des strafbaren Verhaltens erforderlich; diese Darstellung muss erkennen lassen, welche Tatsachen der Tatrichter als seine Feststellungen über die Tat seiner rechtlichen Bewertung zugrunde gelegt hat (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2008 – 2 StR 424/08). Die Sachverhaltsschilderung soll kurz, klar und bestimmt sein und alles Unwesentliche fortlassen (BGH, Beschlüsse vom 30. Mai 2018 – 3 StR 486/17; vom 23. Januar 2018 – 3 StR 586/17; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 271). Insoweit obliegt dem Tatrichter die Aufgabe, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die Entscheidung so zu fassen, dass der Leser die wesentlichen, die Entscheidung tragenden tatsächlichen Feststellungen und die darauf fußenden rechtlichen Erwägungen ohne aufwändige eigene Bemühungen erkennen kann. Das Revisionsgericht ist nicht gehalten, sich aus einer Fülle erheblicher und unerheblicher Tatsachen diejenigen herauszusuchen, in denen eine Straftat gesehen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 2002 – 3 StR 132/02, NStZ-RR 2002, 263). Vielmehr liegt ein Mangel des Urteiles vor, der auf die Sachrüge zu dessen Aufhebung führt, wenn aufgrund einer unübersichtlichen Darstellung der Urteilsgründe unklar bleibt, welchen Sachverhalt das Tatgericht seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Januar 2017 – 4 StR 597/16, juris Rn. 3; vom 5. Dezember 2008 – 2 StR 424/08, juris Rn. 2; Urteil vom 12. April 1989 – 3 StR 472/88; KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 267 Rn. 8). Auch ein unübersichtlicher Aufbau sowie an verschiedenen Stellen verstreute Feststellungen können einen durchgreifenden Mangel des Urteils darstellen, wenn sich hieraus Unklarheiten oder Widersprüche ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2008 – 2 StR 424/08, juris Rn. 7 ff.). Ein durchgreifender materiellrechtlicher Mangel ist ferner dann gegeben, wenn bei der Darstellung der Urteilsgründe nicht klar zwischen Tatsachenfeststellung zum strafbaren Verhalten und der Beweiswürdigung unterschieden wird und infolgedessen unklar bleibt, welche Tatsachen der Tatrichter seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. April 1989 – 3 StR 472/88, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Sachdarstellung 3; Beschluss vom 27. September 1983 – 4 StR 550/83, DRiZ 1989, 422).

Bei dieser Rechtsprechung handelt es sich nicht etwa nur um unverbindliche Empfehlungen zur stilistischen Abfassung eines Urteils, sondern – nicht anders als bei den Anforderungen an die Darstellung eines freisprechenden Urteils (vgl. BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 – 5 StR 36/19, NStZ-RR 2019, 254; vom 14. September 2017 – 4 StR 303/17; vom 6. Mai 1998 – 2 StR 57/98, NStZ 1998, 475) – um gesetzliche Vorgaben des § 267 Abs. 1 bis 3 StPO, die es einzuhalten gilt.

bb) Die Urteilsgründe werden diesen Vorgaben des § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht im Ansatz gerecht. Sie offenbaren schwerwiegende handwerkliche Mängel.

Eine in sich geschlossene Darstellung des Sachverhaltes, die die Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges nachvollziehen lässt, enthält das Urteil nicht.

Die schriftlichen Urteilsgründe bestehen aus insgesamt 548 Seiten, wovon allein die Sachverhaltsschilderung 262 Seiten umfasst. Dies ist keineswegs der Komplexität des Sachverhalts geschuldet, da lediglich eine einzige Betrugstat, ein Eingehungsbetrug, Gegenstand der Verurteilung ist. Nach den Ausführungen des Landgerichts zur rechtlichen Würdigung der ausgeurteilten Tat soll der Angeklagte als Inhaber der Firma R. Dr. K. (R. ) den ehemaligen Mitangeklagten als Vorstand der M AG (M. AG) am 23./24. September 2008 bei Abschluss eines Vertrags über die Lieferung von 25.000 Solarmodulen zu einem Preis von 14.756.000 € über seine Lieferwilligkeit und Lieferfähigkeit getäuscht und die M. AG bereits durch die Eingehung dieser Verbindlichkeit entsprechend geschädigt haben. Der Angeklagte habe nicht vorgehabt, die M. AG zu beliefern. Die M. AG habe auf die zugesagte Lieferung binnen sechs Wochen nach Eingang einer vereinbarten Anzahlung und eines unwiderruflichen Zahlungsversprechens vertraut und sukzessive Zahlungen in Höhe von insgesamt 13.561.467 € erbracht.

Anhand der ausufernden Sachverhaltsdarstellung lässt sich diese rechtliche Wertung nicht nachvollziehen, da sich das Landgericht in der Mitteilung einer Fülle überflüssiger und für die Entscheidung gänzlich belangloser Einzelheiten verliert, weshalb die Identifikation der für den Schuldspruch maßgeblichen Tatsachen nicht mehr gelingt. Statt die Feststellungen zum Sachverhalt anhand der Merkmale des Betrugstatbestands zu entwickeln, hat sich das Landgericht, ohne eine tatbezogene Strukturierung vorzunehmen, darauf beschränkt, die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung undifferenziert zu dokumentieren. Bestätigung findet dies nicht zuletzt darin, dass auch die Einlassung des Angeklagten auf 89 Seiten wiedergegeben wird.

(1) Die Sachverhaltsdarstellung krankt bereits an einem missglückten Aufbau, aus dem sich nicht erschließt, welche Tatsachen das Landgericht als Feststellungen zur Tat verstanden wissen will. Zwar werden von UA 15 bis UA 41 Feststellungen zum „Tatgeschehen“ getroffen, anschließend findet sich aber von UA 41 bis UA 277 ein mit „weitere Feststellungen“ überschriebener Abschnitt, in welchem teilweise Feststellungen aus dem ersten Abschnitt ergänzt oder vertieft werden. Der zweite Abschnitt enthält indes überwiegend eine Vielzahl an Informationen etwa zur Unternehmensgeschichte der angeblich geschädigten AG, zum Firmengeflecht der R. Gruppe des Angeklagten, deren Produktionsplanungen und vertraglichen Beziehungen zu Kunden, deren Relevanz für die ausgeurteilte Tat sich – entgegen der einleitenden Bemerkung des Landgerichts, die Darstellung der „weiteren Feststellungen“ (UA 46 bis UA 275) sei „zum Verständnis des Tatgeschehens unabdinglich“ – nicht erschließt.

Beispielsweise werden in dem Abschnitt „weitere Feststellungen“ unter der Unterüberschrift „weiteres geschäftliches Handeln, Versicherungen, Firmenpolitik, Marketing, Anpreisungen“ der vom Angeklagten gegründeten Firmen von UA 163 bis UA 276 ausgesprochen kleinteilig Projekte des Angeklagten beschrieben (etwa der Vertragsschluss über die Errichtung eines stratosphärischen Luftschiffs in China, UA 163 ff.), zu eingestellten Verfahrensteilen („Projekt T. „) Feststellungen getroffen und Firmenpräsentationsunterlagen dargestellt, ohne einen Bezug zum Schuldspruch herzustellen. Soweit in diesem den Schuldspruch nicht betreffenden Komplex etwa auch umfangreiche E-Mail-Korrespondenz des bzw. mit dem Angeklagten wörtlich mitgeteilt bzw. überwiegend einkopiert wird, erschließt sich nicht, ob und gegebenenfalls inwieweit das Landgericht ihr doch Bedeutung für den Sachverhalt beimessen wollte oder diese in irgendeiner Weise als Indiztatsachen für die Beweiswürdigung des Tatgeschehens oder die Strafzumessung Relevanz entfalten können. Das Landgericht kommt im Rahmen der Beweiswürdigung nicht darauf zurück.

Die aus Sicht des Landgerichts für das ausgeurteilte Tatgeschehen notwendigen Tatsachen aus dem Konvolut des zweiten Abschnitts herauszufiltern und aus den beiden Feststellungsblöcken den den Schuldspruch tragenden Sachverhalt zusammenzustellen, ist nicht die Aufgabe des Senats.

(2) Dem Verständnis und der Lesbarkeit des Urteils gänzlich abträglich ist zudem die den Fließtext zur Sachverhaltsdarstellung fortlaufend unterbrechende Fülle von insgesamt etwa 200 einkopierten Schriftstücken, Abbildungen u.a., deren Bedeutung für den Schuldspruch ebenfalls nicht erkennbar ist.

Insbesondere bleibt aufgrund der gewählten collageartig anmutenden Sachverhaltsdarstellung unklar, ob oder inwieweit die in die Sachverhaltsdarstellung einkopierten Schriftstücke ihrem Inhalt nach festgestellt sein sollen oder ob sie nur der Beweiswürdigung dienen. Die gebotene Trennung zwischen Feststellungen zur Tat und der Beweiswürdigung findet nicht statt. Zwar hat die Strafkammer insoweit einleitend darauf hingewiesen, dass „zur erleichterten Darstellung der festgestellten Tatsachen einige der die Feststellungen belegenden und im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführten Urkunden bereits hier – im Vorgriff auf III. (die Beweiswürdigung) – jeweils auszugsweise dargestellt“ werden, was für eine bloß beweiswürdigende Funktion der einkopierten Passagen spricht. Allerdings ergäben sich bei Auslassung einiger einkopierter Passagen offensichtliche Lücken in der Sachverhaltsdarstellung, so dass ihnen – zumindest zum Teil – auch Feststellungscharakter zugesprochen werden könnte. Dies gilt etwa für den Inhalt der für den Schuldspruch elementar wichtigen Auftragsbestätigung der M. AG vom 24. September 2008 (Zeitpunkt des Vertragsschlusses), deren Inhalt – anders bei anderen Passagen – gerade nicht im Fließtext nochmals wiedergegeben wird. Auch insoweit vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, ob und gegebenenfalls welche Feststellungen vom Tatrichter getroffen wurden.

b) Aufgrund dieser den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht werdenden, unklaren und ausufernden Sachverhaltsdarstellung hat sich das Landgericht zudem den Blick für Rechtsfragen verstellt, die – soweit dies dem Urteil entnommen werden kann – der Fall aufweist. Das Urteil hielte daher auch unabhängig von den durchgreifenden Darstellungsmängeln sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.

…….“

Also. Gereicht hätte es eh nicht…. aber die Arbeit von über drei Jahren ist schon wegen der mangelhaften Urteilsgründe dahin.

 

3 Gedanken zu „Wie der BGH die Urteilsgründe lesen möchte, oder: Handwerkliche Fehler

  1. meine5cent

    „Handwerkliche Mängel“. Ich dachte Juristerei sei praktische Wissenschaft und der BGH prüfe Urteile auf Rechtsfehler, nachdem er ja lang und breit zu den sich aus § 267 StPO ergebenden Anforderungen an Urteilsgründe auslässt.
    Interessant jedenfalls dass er unter bb) (1) letzter Absatz eine zivilprozessuale Argumentation, die eigentlich auch nur in Ausnahmefällen Bestand vor den Zivilsenaten des BGH hat („es ist nicht Sache des Gerichts, sich aus Anlagen zu Schriftsätzen den vom Kläger/Beklagten vorzutragenden Sachverhalt selbst zusammenzusuchen“), übernimmt und benutzt, um den „Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe“ nicht erfassen zu müssen und (u.a.) mit dieser Begründung gar nicht erst prüft, ob die tatsächlichen Feststellungen das Urteil tragen.

  2. meine5cent

    Nein, in die Urteilsgründe. Deswegen schrieb ich ja nicht: „ob die Aktenlage das Urteil trägt“, sondern „ob die tatsächlichen Feststellungen das Urteil tragen“. Und die wollte sich der Senat wie unter bb) (1) ausgeführt nicht aus dem Urteil zusammensuchen.. Mir ging es nur darum, dass der Senat eine bislang eher im Zivilprozess verwendete Argumentationslinie verwendet, um von dem strafprozessualen „Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe“ wegzukommen, der ja sonst so manches Urteil noch gerettet hat.

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