Pflichti II: Betreuter im Strafvollstreckungsverfahren, oder: Pflichtverteidiger (nach altem Recht)?

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Die zweite Entscheidung zu den §§ 140 ff. StPO kommt mit dem OLG Celle, Beschl. v. 03.12.2019 – 2 Ws 352/19 – 355/19 – auch aus der „Altzeit“. Es geht noch einmal um die Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen unter Betreuung stehenden Beschuldigten/Verurteilten. Hier war das im Strafvollstreckungsverfahren beantragt worden. Der Verurteilte hatte die Bestellung beantragt, die StVk hatte das abgelehnt. Mit der Beschwerde wird dann erstmals vorgetragen, „dass er (der Verurteilte) unfähig sei, seine Verteidigung selbst vorzunehmen. Er befinde sich in ärztlicher Behandlung der Institutsambulanz der Psychiatrie L.. Überdies sei eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, die u.a. den Aufgabenkreis Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse. Vor diesem Hintergrund sei es ihm nicht möglich, seine verfahrensgemäßen Rechte selbst wahrzunehmen.“

Die StVK hat nicht abgeholfen. Das Rchtsmittel hatt dann auch beim OLG keinen Erfolg.

„Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers entsprechend § 140 Abs. 2 StPO im derzeit anhängigen Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung über die bedingte Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der zu vollstreckenden (Gesamt-)Freiheitsstrafen sind vorliegend nicht erfüllt.

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage bzw. die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten. Es ist insoweit allerdings nicht auf die Schwere oder die Schwierigkeit im Erkenntnisverfahren, sondern auf die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten oder auf besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren abzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 140 Rn. 33 m.w.N.). Die drei vorgenannten Merkmale sind einschränkend zu beurteilen, weil im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht (vgl. BVerfG NJW 2002, 2773).

Bei der Entscheidung, ob im Strafvollstreckungsverfahren wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, haben die Dauer der zu vollstreckenden Strafe sowie der Strafrest außer Betracht zu bleiben (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 07.06.2012– 1 Ws 234/12 -; OLG Hamm, StraFo 2002, 29; OLG Celle, Beschluss vom 10.09.2019 – 2 Ws 258/19 -). Es ist unerheblich, dass dem Verurteilten bis zur Vollverbüßung noch ein Strafrest von mehr als einem Jahr droht.

Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass vorliegend drei divergierende Einschätzungen der Vollzugsanstalt vorliegen und die Staatsanwaltschaft(-en) bislang keine abschließende Stellungnahme abgegeben haben. Zwar können eine unterschiedliche Beurteilung der Sach- oder Rechtslage sowie Schwierigkeiten bei der Ermittlung des zugrunde zu legenden Sachverhalts grundsätzlich die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich machen (vgl. Thomas/Kämper in: MüKo, 1. Aufl. 2014, StPO, § 140 Rn. 41). Hier beruhen jedoch die voneinander abweichenden prognostischen Einschätzungen der JVA H. auf dem Vorwurf, dass der Verurteilte versucht habe, eine Urinprobe zu manipulieren. Dieser im Vollzugsalltag keineswegs unübliche Vorwurf stellt keine tatsächliche oder rechtliche Komplikation dar, der nur durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers begegnet werden könnte.

Die Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung liegt immer dann vor, wenn der Verurteilte nicht in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren oder zumindest erhebliche Zweifel an seiner Eignung hierzu bestehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, SPO, 61. Aufl. 2018, § 140, Rn. 30). Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung steht, stellt insoweit lediglich ein Indiz dar, das für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht zu begründen vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte wie etwa ein fortgeschrittenes Lebensalter des Verurteilten, eine erhebliche psychiatrische Erkrankung (z.B. hirnorganischer Abbau, intellektuelle Minderbegabung oder eine dissoziale Persönlichkeitsstörung), eine Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt für den Aufgabenkreis Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten oder aber die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt hinzukommen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14.08.2003 – 2 Ss 439/03 -; Beschluss vom 30.08.2000 – 2 Ws 201/00 -; Beschluss vom 05.11.1999 – 2 Ws 325/99 -). Solche Umstände liegen hier nicht vor.

Im Übrigen wird die Annahme einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten dadurch gestützt, dass er in seinem selbst verfassten Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen seine Ablösung aus dem offenen Vollzug vom 17. Oktober 2019 den komplexen Sachverhalt in sich schlüssig darstellen, die bedeutsamen Gesichtspunkte darstellen und mit Daten belegen konnte. Dass dieses Schreiben von einer anderen Person verfasst worden sei und deshalb nicht ergänzend herangezogen werden könnte (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 05.10.2012 – 1 Ws 405/12 -), lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.“

Die Diskussion um die Anwendung der §§ 140 ff. stPO im Strafvollstreckungsrecht werden wir auch nach neuem Recht führen. Alle anderen angesprochen Fragen wird man neu überdenken müssen.

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