200 EUR für 9,5 Stunden sind nicht unzumutbar, oder: Zum Kotzen

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So heute am Gebührenfreitag dann zunächst zwei Entscheidungen zum Ärgern. Ja, ich kann es nicht ändern. 🙂

Zunächst ein Beschluss des BVerfG zur Pauschvergütung bei einem Zeugenbeistand. Wenn man den BVerfG, Beschl. v. 22.07.2019 – 1 BvR 1955/17 – liest, weiß man nicht, über wen man sich mehr ärgern muss/soll: Über das OLG Düsseldorf, das den Zeugenbeistand, der an drei Hauptverhandlungstagen an der insgesamt 9,5 Stunden dauernden Vernehmung seines Mandanten teilgenommen hatte, mit 200 EUR – ja, richtig gelesen – abspeist oder über das BVerfG, das in seinem Beschluss meint, das sei noch nicht unzumutbar? Es ist „unfassbar“:

„II.

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seiner Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG.

Die gesetzliche Vergütung der Tätigkeit des Beschwerdeführers als Zeugenbeistand an drei Hauptverhandlungstagen mit nur einer Gebühr in Höhe von 200 Euro stelle ein grundrechtsverletzendes wirtschaftliches Sonderopfer dar. Das Oberlandesgericht berufe sich zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bewilligung einer Pauschgebühr bei einer Existenzgefährdung, weil diese bloß für einen Pflichtverteidiger gelten könne. Die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG hätten vorgelegen. Die Versagung im vorliegenden Fall stelle einen nicht mehr gerechtfertigten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG dar, da sie dem Beschwerdeführer die verfassungsrechtlich gebotene finanzielle Kompensation für den staatlichen Eingriff vorenthalte. Die Vergütung seiner Arbeitskraft an drei Verhandlungstagen mit 200 Euro netto sei existenzgefährdend.

2. Zu der Verfassungsbeschwerde und den durch sie aufgeworfenen Fragen haben das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, die Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf für die Landeskasse, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein e.V., der Deutsche Strafverteidiger e.V. und der Weisse Ring e.V. Stellung genommen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Sie hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, weil nicht erkennbar ist, dass der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt sein könnte.

1. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar.

a) Die Bestellung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts als Zeugenbeistand ist – wie die Bestellung als Pflichtverteidiger (vgl. BVerfGE 68, 237 <253 f.> – eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Verfassungsrechtlich ist geklärt, dass dieser Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung und der sich daraus ableitenden kostenrechtlichen Folge ausreichenden Gründen des Gemeinwohls, nämlich der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, dient (zur Bestellung eines Pflichtverteidigers vgl. BVerfGE 39, 238 <241 f.>). Daher ist die Begrenzung des Vergütungsanspruchs eines Rechtsanwalts durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (vgl. BVerfGE 68, 237 <255>). In Strafsachen besonderen Umfangs, die die Arbeitskraft einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, ohne dass sie sich dieser Belastung entziehen könnten, gewinnt die Höhe der Vergütung existentielle Bedeutung (zum Pflichtverteidiger vgl. BVerfGE 68, 237 <255>). Eine Indienstnahme zu den gesetzlichen Gebühren könnte dann dem Rechtsanwalt ein unzumutbares Opfer abverlangen. Das Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) gebietet für solch besondere Fallgestaltungen eine Regelung, die es, wie heute § 51 RVG, ermöglicht, der aufgezeigten Inanspruchnahme Rechnung zu tragen und ihn entsprechend zu vergüten (vgl. BVerfGE 47, 285 <321 f.>; 68, 237 <255>), um ein angemessenes Verhältnis zwischen Eingriffszweck und Eingriffsintensität sicherzustellen (vgl. BVerfGE 101, 331 <347>).

b) Gemessen hieran ist ein unzumutbarer Eingriff in die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers nicht ersichtlich. Das Oberlandesgericht hat bei seiner Auslegung des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG Bedeutung und Tragweite des Art. 12 Abs. 1 GG nicht verkannt. Obgleich die Heranziehung der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals „nicht zumutbar“ im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG einfach-rechtlich nicht zwingend ist, ist die Annahme des Oberlandesgerichts, die niedrige gesetzliche Gebühr sei nicht unzumutbar, da die Indienstnahme des Beschwerdeführers an drei Hauptverhandlungstagen keine längere Zeit darstelle, die seine wirtschaftliche Existenz hätte gefährden können, jedenfalls vorliegend verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Zwar sind neben der Fallgruppe der wirtschaftlichen Existenzbedrohung – gerade hinsichtlich des Zeugenbeistands – grundsätzlich auch weitere Härtefälle denkbar, in denen von einem verfassungsrechtlich unzumutbaren Sonderopfer wegen zu geringer Vergütung auszugehen sein könnte. Auch kann schon eine im Vergleich zu einem Pflichtverteidiger deutlich geringere zeitliche Inanspruchnahme eines Zeugenbeistands dessen wirtschaftliche Existenz bedrohen, da der Zeugenbeistand – anders als der Pflichtverteidiger – nicht für jeden Hauptverhandlungstag mit einer Terminsgebühr vergütet wird.

bb) Vorliegend ist aber weder dargetan noch ersichtlich, dass die Grenze der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeit nicht gewahrt und dem Beschwerdeführer ein unzumutbares Sonderopfer aufgebürdet worden wäre. Das Oberlandesgericht hat zwar insoweit lediglich auf den vom Beschwerdeführer erbrachten Gesamtaufwand von drei Verhandlungstagen in einem besonders umfangreichen Verfahren abgestellt und insbesondere weder die notwendige Vorbereitung noch den für die Anreise zum Gerichtsort erforderlichen Zeitaufwand ausdrücklich berücksichtigt. Doch auch unter Einbeziehung dessen ist nicht erkennbar, dass dem Beschwerdeführer ein unzumutbares Sonderopfer abverlangt worden wäre, insbesondere, weil er durch seine Tätigkeit als Beistand so belastet gewesen sei, dass dies seine Existenz gefährdet hätte oder zumindest erhebliche finanzielle Aus-wirkungen auf seinen Kanzleibetrieb gehabt haben könnte. Der Vortrag, die gesetzliche Vergütung sei offensichtlich existenzgefährdend, genügt insoweit nicht.“

Vorsichtig ausgedrückt: Kopfschüttel. Etwas drastischer: Zum Kotzen….