Archiv für den Monat: November 2018

Strafzumessung II: Sexueller Missbrauch, oder: Das Hinwegsetzen über die Interessen des missbrauchten Kindes gehört zum Regeltatbild

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Die zweite Strafzumessungsentscheidung, der BGH, Beschl. v. 17.10.2018 – 2 StR 367/18 – ist auch in einem Missbrauchsverfahren ergangen. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen verurteilt. Dagegen die Revision, die hinsichtlich der Strafzumessung Erfolg hatte:

„1. Die Strafzumessung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat hinsichtlich aller Taten zum Nachteil des Angeklagten die „eigensüchtige Einstellung“ berücksichtigt, mit der er „die Befriedigung seiner sexuellen Forderungen ohne Rücksicht auf deren Folgen für die Nebenklägerin an dieser als Ersatz für eine erwachsene Sexualpartnerin“ durchgesetzt habe. Damit hat die Strafkammer rechtsfehlerhaft darauf abgestellt, dass der Angeklagte die Straftaten überhaupt begangen hat. Denn dass sich der Angeklagte über die Interessen des missbrauchten Kindes hinweggesetzt hat, gehört zum Regeltatbild der Tatbestände der §§ 176 und 176a StGB und kann deshalb nicht als den Unrechtsgehalt der Taten erhöhender Umstand angesehen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2014 – 3 StR 318/13, NStZ 2014, 409, 410; Senat, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 2 StR 189/13, NStZ-RR 2013, 291).

b) Darüber hinaus hat das Tatgericht im Fall II. 5 der Urteilsgründe nicht erkennbar geprüft, ob das Vorliegen des vertypten Milderungsgrunds verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) allein oder unter Berücksichtigung der sonstigen Milderungsgründe Anlass für die Annahme eines minder schweren Falls im Sinne des § 176a Abs. 4 StGB sein könnte (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 20. März 2018 – 2 StR 531/17, juris Rn. 11; BGH, Beschluss vom 29. August 2018 – 4 StR 248/18, juris Rn. 8; Beschluss vom 4. April 2017 – 3 StR 516/16, NStZ 2017, 524).

2. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das Tatgericht ohne die aufgezeigten Rechtsfehler zu einer für den Angeklagten günstigeren Bemessung der Einzelstrafen sowie der Gesamtstrafe gekommen wäre. Da es sich lediglich um Wertungsfehler handelt, können die dem Strafausspruch zugrunde liegenden Feststellungen bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen, die zu den bereits getroffenen Feststellungen nicht in Widerspruch treten dürfen, sind möglich.“

Strafzumessung I: Täter-Opfer-Ausgleich, oder: „friedenstiftender“ kommunikativer Prozess

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Schon etwas länger – na ja, schon recht lange – hängt in meinem Blogordner der BGH, Beschl. v. 23.8.2017 – 3 StR 233/17. Der ist mir immer wieder durchgerutscht. Heute passt der Beschluss, der sich zur Strafzumessung bzw. zur den Voraussetzungen für die Annahme eines Täter-Opfer-Ausgleichs verhält, ganz gut.

Dem Beschluss liegt in etwa folgender Sachverhalt zugrunde. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. In einem Zeitraum von ca. einem Jahr nahm der Angeklagte in sieben Fällen sexuelle Handlungen an der damals 12 bzw. 13 Jahre alten Nebenklägerin vor. Bei der Nebenklägering handelt es sich um die 2003 geborene Nichte des Angeklagten, die zu diesem eine vertrauensvolle Beziehung unterhalten hat. Der Angeklagte war zunächst in U-Haft. Nach seiner Entlassung aus der U-Haft wandte er sich über seinen Verteidiger in mehreren Schreiben an den Vater der Nebenklägerin, brachte sein tiefes Bedauern zum Ausdruck und zahlte nach entsprechenden Angeboten 2 x 5.000 € an die Nebenklägerin und erklärte in einem Vergleich die Übernahme künftiger materieller und immaterieller Schäden. Das LG hat die Voraussetzungen von § 46a StGB bejaht und unter Hinzuziehung weiterer schuldmindernder Gesichtspunkt einen minder schweren Fall des § 176a StGB angenommen und den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der StA blieb ohne Erfolg.

Der BGH nimmt zunächst noch einmal zu den (allgemeinen) Voraussetzungen des TOA Stellung und weits darauf hin, dass ein sog. kommunikativer Prozess grundsätzlich auch erforderlich ist, soweit es § 46a Nr. 1 StGB genügen lässt, dass der Täter die Wiedergutmachung seiner Tat ernsthaft erstrebt. Deshalb habe das Tatgericht regelmäßig insbesondere Feststellungen dazu zu treffen, wie sich das Opfer zu den Bemühungen des Täters gestellt hat. Und dann:

b) Nach alledem war für einen Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB die persönliche Beteiligung der Nebenklägerin erforderlich. Sie war auch nicht deswegen – ausnahmsweise – entbehrlich, weil bei den Vergleichsverhandlungen und dem Vergleichsschluss die Eltern in ihrem Namen handelten und sie über die gegenständlichen Missbrauchstaten nicht sprechen wollte:

aa) Dass die Eltern als gesetzliche Vertreter an dem Zustandekommen der Einigung mitwirkten, kann eine Einbeziehung der Nebenklägerin in den Täter-Opfer-Ausgleich nicht ersetzen.

Zwar setzt der kommunikative Prozess keine persönliche Begegnung des Täters mit seinem Opfer voraus. Eine Verständigung über vermittelnde Dritte, etwa – wie hier – den Verteidiger und die gesetzlichen Vertreter, genügt (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 287/05, aaO; Beschluss vom 8. Juli 2014 – 1 StR 266/14, aaO; MüKoStGB/Maier, 3. Aufl., § 46a Rn. 29) und wird bei schwerwiegenden Sexualdelikten, wie vorliegend abgeurteilt, vielfach als opferschonendes Vorgehen ratsam sein (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 2002 – 2 StR 73/02, aaO). Jedoch ist ein solcher vermittelter kommunikativer Prozess nicht gegeben, wenn die Erklärungen des Täters das Opfer erst gar nicht erreichen.

Allein der Umstand, dass es sich bei der Nebenklägerin um eine Minderjährige handelt, die im Rechtsverkehr von ihren Eltern gesetzlich vertreten wird, lässt keine abweichende Wertung zu. Die Vorschrift des § 46a StGB will einen Anreiz für Bemühungen um einen friedensstiftenden Ausgleich seitens des Täters mit dem Ziel schaffen, dem durch die Straftat Geschädigten Genugtuung zu gewähren (vgl. BGH, Urteile vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, aaO, S. 137 f.; vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 287/05, aaO). Adressat dieser Bemühungen – gleichviel, ob durch Vermittlung eines Dritten oder unvermittelt – kann daher grundsätzlich nur das Tatopfer selbst sein. Dabei kann es nicht auf die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit ankommen; dies folgt nicht nur aus dem Zweck des § 46a StGB, sondern auch aus den Regelungen der § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7, § 45 Abs. 2 Satz 2 JGG, die den Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht für Jugendliche vorsehen und an denen sich der Gesetzgeber bei dessen erstmaliger Normierung im Erwachsenenstrafrecht orientiert hat (vgl. BT-Drucks. 12/6853, S. 21; BGH, Urteil vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, aaO, S. 137, 139). Hiervon unberührt bleibt, dass es – umgekehrt – regelmäßig nicht angezeigt sein wird, die Kommunikation gleichsam über die Köpfe der gesetzlichen Vertreter hinweg zu führen.

Inwieweit anderes zu gelten hat, wenn das Opfer nicht über die notwendige Verstandesreife für einen Täter-Opfer-Ausgleich verfügt, kann hier dahinstehen. Dass die zur Zeit der Hauptverhandlung 13-jährige Nebenklägerin keine genügende Vorstellung von dem seitens des Angeklagten beabsichtigten Ausgleich hatte und nicht imstande war, einen gegenüber den Bemühungen des Angeklagten befürwortenden oder ablehnenden Willen zu bilden, ist gerade nicht festgestellt.

bb) Dass die Nebenklägerin Gesprächen über die gegenständlichen Missbrauchstaten ablehnend gegenüberstand, führt nicht dazu, dass von ihrer Einbindung in den kommunikativen Prozess gänzlich abgesehen werden durfte. Die Strafkammer hat in der Hauptverhandlung die Überzeugung gewonnen, dass die Nebenklägerin über die Taten „nicht reden will und sie dies augenscheinlich sehr belastet“ (UA S. 17). So haben ihre Eltern etwa ausgesagt, auch sie hätten mit ihr weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart darüber gesprochen (UA S. 10).

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte eine Strafrahmenmilderung gemäß § 46a Nr. 1 StGB nicht ausgeschlossen sein, wenn „die Geschädigten eine für einen Ausgleich erforderliche Mitwirkung verweigern“ (BT-Drucks. 12/6853, S. 21; s. BGH, Urteil vom 31. Mai 2002 – 2 StR 73/02, aaO), soweit – auch in diesen Fällen – unter „Anleitung eines Dritten … eine Lösung des der Tat zugrundeliegenden Gesamtkonflikts“ erstrebt wird (BT-Drucks. 12/6853, S. 22). In der Literatur wird zu einer vom Tatopfer abgelehnten Mitwirkung vertreten, dessen Einbeziehung sei nicht zwingend erforderlich, wenn sich seine Weigerung nicht mehr als Wahrnehmung rechtlich schützenswerter Interessen darstelle (vgl. Fischer, StGB, 65. Aufl., § 46a Rn. 10d; Schädler, NStZ 2005, 366, 368 f.) oder bei objektiver Wertung als nicht billigenswert erscheine (vgl. Meier, JuS 1996, 436, 440; kritisch [„zu weitgehend bzw. zu pauschal“] MüKoStGB/Maier aaO, Rn. 28).

Inwieweit derartige Einschränkungen anzuerkennen sind, braucht der Senat freilich für den vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Insbesondere kommt es auch nicht darauf an, ob die Regelung des § 155a Satz 3 StPO, wonach gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten die Eignung eines Verfahrens für den Täter-Opfer-Ausgleich nicht angenommen werden „darf“, ausnahmslos auf das materielle Strafrecht übertragbar ist (in diesem Sinne allerdings BGH, Urteile vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, aaO, S. 142; vom 26. August 2003 – 1 StR 174/03, aaO). Im Hinblick auf die Schwere der im Schuldspruch rechtskräftig abgeurteilten Taten sowie der durch diese hervorgerufenen, anhaltenden erheblichen psychischen Belastungen für die Nebenklägerin liegt eine solche ausnahmebegründende Fallkonstellation hier völlig fern.

c) Die Annahme des Landgerichts, es habe der für den Täter-Opfer-Ausgleich erforderliche „kommunikative Prozess“ zwischen Angeklagtem und Nebenklägerin stattgefunden (UA S. 15) und der Vergleich habe friedensstiftende Wirkung gehabt (UA S. 14), hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand. Aus dem Verhalten des Angeklagten während des Verfahrens, insbesondere der frühzeitigen geständigen Einlassung und dem Verzicht auf die Einvernahme der Nebenklägerin, den beiden Entschuldigungsschreiben, den nicht unbeträchtlichen Schmerzensgeldzahlungen sowie dem Zustandekommen des – umfassenden – Vergleichs über künftigen materiellen und weiteren immateriellen Schadensersatz durfte die Strafkammer auf einen Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB einschließlich des durch Übernahme von Verantwortung geprägten kommunikativen Prozesses und einer gewissen Akzeptanz auf Seiten der Nebenklägerin schließen…..

 

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Verhandlung vor der Strafkammer, aber Schwurgerichtsgebühren?

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Am Freitag hatte ich die (interessante) Frage gestellt: Ich habe da mal eine Frage: Verhandlung vor der Strafkammer, aber Schwurgerichtsgebühren?. Auf die habe ich dem Fragesteller wie folgt geantwortet:

„Hallo Herr Kollege,

hier geht es etwas besser als bei Facebook 🙂 .

Die von Ihnen aufgeworfene Frage ist bisher nicht entschieden, wahrscheinlich wird sich das Problem auch nicht so häufig stellen.

Also: Eine Verweisung kommt/kam nicht in Betracht, das Schwurgericht ist kein Gericht höherer Ordnung (BGHSt 26, 191; 27, 99), sondern eine Strafkammer mit besonderer Zuständigkeit. Es gilt also die (Fristen)Regelung in § 6a StPO. Danach war in Ihrem Fall eine Rüge der Unzuständigkeit nicht mehr möglich. Folge ist, dass damit die (allgemeine) Strafkammer „von Rechts wegen zuständig“ wurde/war. Sie hat also als Schwurgericht verhandelt. Folge davon ist m.E., dass damit auch die „Schwurgerichtsgebühren“ anfallen, also die Nr. 4118 ff. VV RVG.

Ich würde die also ansetzen und den Ansatz begründen, dann kann sich der Bezirksrevisor, der bestimmt Bedenken haben wird, damit schon mal gleich auseinander setzen.

Ausgang würde mich interessieren.“

Ich denke, dass der Bezirksrevisor diesen Ansatz nicht „kampflos“ hinnehmen und Einwände erheben wird. Er wird sich auf einen rein formalistischen Standpunkt zurückziehen und sagen: Verhandlung bei der allgemeinen Strafkammer führt auch nur zu Strafkammergebühren. Das ist m.E. aber nicht richtig, denn es ist nicht bei der allgemeinen Strafkammer verhandelt worden, sondern bei einer allgemeinen Strafkammer, die aufgrund verfahrensrechtlicher Vorgaben zur Strafkammer als Schwurgericht geworden ist.

Verkehrsrecht II: Begriff des Überholens, oder: Wo begann der Überholvorgang?

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Und die zweite Entscheidung des heutigen Tages ist der OLG Oldenburg, Beschl. v. 22.10.2018 – 1 Ss 173/18. Er behandelt eine Problematik aus dem Bereich des § 315c StGB – Straßenverkehrsgefährdung, und dort dann der Abs. 1 Nr. 2b – Falsches Überholen.

AG und LG haben den Angeklagten verurteilt, und zwar auf der Grundlage folgender Feststellungen:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts brach der Angeklagte am 15. März 2016 gegen 7:40 Uhr mit seinem PKW A., amtliches Kennzeichen ., von zu Hause auf, um zu seinem Arbeitsplatz am W. Weg auf kürzester Strecke zu gelangen. Sein Fahrzeug war dabei auf dem Grundstückstreifen zwischen Wohnhaus und dem gepflasterten Gehweg der stadtauswärts führenden O. Straße geparkt. Da auf der O. Straße – wie an jedem Wochentag außerhalb der Schulferien – der Verkehr aufgrund seiner erhöhten Dichte ins Stocken geraten war, entschied sich der Angeklagte, diesen zu umgehen und die Entfernung bis zur nächsten Querstraße, der B. -Straße, in die er zum Wenden ohnehin einfahren wollte, auf dem Geh- und Radweg zurückzulegen. Die bis zur B. -Straße zurückzulegende Strecke von 15 m durchfuhr der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von etwa 10-15 km/h. Als er von dem Geh- und Radweg auf die B. -Straße fuhr, befand sich der Zeuge P. im Abbiegevorgang von der O. Straße auf die besagte Querstraße. Der Angeklagte wollte sich noch vor den Zeugen setzen und fuhr daher – zügiger als der Zeuge P.- weiter auf die Straße ein. Dieses Verhalten zwang den Zeugen dazu, abrupt abzubremsen und dem Angeklagten und seinem PKW auszuweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Das Fahrzeug H. des Zeugen P. kam in einem Abstand zum Fahrzeug des Angeklagten von wenigen Millimetern bis zu maximal 3 cm zum Stehen. Im Falle einer Kollision wäre am Fahrzeug des Zeugen P.ein Schaden von etwa 2.000-2.500 Euro entstanden.“

Das OLG hat das anders gesehen und hat insoweot aufgehoben und nur wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt:

2. Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nicht. Das Verhalten des Angeklagten erfüllt nicht die allein in Betracht kommende Tatbestandsalternative des falschen Überholens oder des sonstigen Falschfahrens bei Überholvorgängen (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB).

Allerdings ist die Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB nicht auf Überholvorgänge im Sinne der Straßenverkehrsordnung – den tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten – beschränkt. Der Begriff des Überholens in § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB ist vielmehr durch Auslegung des Regelungsgehalts der Strafrechtsnorm zu bestimmen. Ausgehend von der Wortbedeutung und unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Sichbewegen auf derselben Fahrbahn kein taugliches Kriterium für eine abschließende Erfassung besonders gefährlicher Fälle des Vorbeifahrens liefert, wird das Tatbestandsmerkmal des Überholens auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden. Danach ist ein Überholen auch gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen, über Ein- oder Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm, Urteil v. 26.01.1967, 2 Ss 1394/66, VRS 32, 449). Dagegen fehlt es an einem Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf der Bundesautobahn (vgl. zu allem BGH, Beschluss v. 15.09.2016, 4 StR 90/16, BGHSt 61, 249 m.w.N.). Danach würde einer Strafbarkeit des Verhaltens des Angeklagten nach § 315c StGB der Umstand, dass er für das Vorbeifahren an dem Fahrzeug des Zeugen P.nicht die Fahrbahn, sondern den Gehweg an der O. Straße nutzte, nicht entgegenstehen.

Der Angeklagte hat jedoch sein Fahrmanöver nicht auf der Fahrbahn begonnen. Vielmehr war er mit seinem zunächst auf einem Streifen vor dem Haus geparkten PKW unmittelbar auf dem Gehweg losgefahren.

Zwar kommt es für den strafrechtlichen Begriff des Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB nicht darauf an, dass die Fahrt nach dem Vorbeifahren an dem anderen Fahrzeug auf dessen Fahrbahn fortgesetzt wird. Denn wollte man für das Überholen begrifflich auf eine das Vorbeifahren abschließende Rückkehr auf die Fahrbahn abstellen, bliebe die rechtliche Einordnung des tatsächlichen, eine bestimmte Absicht nicht erfordernden Vorgangs des Vorbeifahrens bis zu dessen Abschluss in der Schwebe (BGH, a.a.O.). Ob ein Überholen nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB aber auch dann vorliegt, wenn das Vorbeifahren nicht auf der von dem anderen Fahrzeug benutzten Fahrbahn seinen Ausgang nimmt, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht entschieden, vielmehr ausdrücklich offengelassen (vgl. zuletzt a.a.O. Rz. 10 a.E.).

Nach Auffassung des Senats ist dies zu verneinen.

Zwar vertritt Kubiciel in seiner Anmerkung zur genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofes (jurisPR-StrafR 23/2016 Anm. 1) die Auffassung, auf der Grundlage des von ihm kritisch gesehenen weiten Straßenverständnisses des Bundesgerichtshofes müsse es konsequenterweise auch irrelevant sein, wo der Überholvorgang beginnt. Tatbestandlich könne danach auch derjenige handeln, der von einem Parkplatz auf einen Gehweg und auf diesem zu einem benachbarten öffentlichen Supermarktparkplatz fahre, um eine Autoschlange zu umgehen, die vor einer roten Ampel warte – eine Konsequenz, welche Kubiciel ersichtlich als schwer vertretbar ansieht.

Dem vermag der Senat jedoch nicht zu folgen. Zwar setzt der weite Begriff des Überholens im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB eine Bewegung auf derselben Fahrbahn nicht voraus. Andererseits kann bei Bewegungsvorgängen auf Flächen außerhalb der Fahrbahn bzw. auf verschiedenen Fahrbahnen auch nicht jedes „Vorbeifahren eines Verkehrsteilnehmers von hinten an einem anderen, der sich in derselben Richtung bewegt,“ unter den strafrechtlichen Überholbegriff subsumiert werden (vgl. LK-König, StGB, 12. Aufl., § 315c Rz. 79). Taugliche Kriterien für eine Abgrenzung sind etwa, ob ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen den jeweiligen Flächen besteht und wo der Schwerpunkt des „Überholvorgangs“ liegt. Wird der Überholvorgang von der durchgehenden Fahrbahn aus begonnen und kehrt der Vorbeifahrende unverzüglich wieder dahin zurück oder beabsichtigt er dies, so spricht dies für die Annahme des Überholens. Im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB überholt daher, wer von der Richtungsfahrbahn aus rechts auf den Verzögerungs- bzw. Beschleunigungsstreifen einer Autobahn ausschert, um sich nach Passieren des anderen Fahrzeugs vor dieses zu setzen (vgl. LK-König, a.a.O.).

Kein Überholen liegt demgegenüber vor, wenn der in eine Bundesautobahn Einfahrende schneller als der sich auf der Durchgangsfahrbahn bewegende Fahrzeugführer fährt und sich nach dem Einfahrvorgang vor diesen setzt. Denn hier ist mangels Beginns des „Überholvorgangs“ auf der durchgehenden Fahrbahn der Schwerpunkt nicht dort anzusiedeln (LK-König, a.a.O. Rz. 80).

So liegt es auch hier. Weder der Beginn des Fahrmanövers des Angeklagten noch das Vorbeifahren an dem Fahrzeug des Zeugen P. haben auf der durchgehenden Fahrbahn stattgefunden. Diese hat der Angeklagte erst zum Abschluss, beim Einbiegen auf die B. -Straße erreicht. Auch liegt der Schwerpunkt des Vorwurfs nicht in der Missachtung der sich aus § 5 StVO ergebenden Pflichten, sondern in einer Verletzung von § 10 StVO.

Nach alledem stellt das festgestellte Verhalten des Angeklagten kein Überholen im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB dar.“

Verkehrsrecht I: Das Betriebsgelände einer Spedition ist kein öffentlicher Verkehrsraum

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Die 48. KW. eröffne ich heute mit Verkehrsrecht. Und da bringe ich zuerst das AG Nürtingen, Urt. v. 29.10. 2018 – 11 Cs 71 Js 20096/18, ergangen in einem Verfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB). „Nach einem langen Kampf“, wie der Kollege Oliver Kranz aus Franfurt schrieb, als er mir das Urteil geschickt hat.

Das AG hat den Angeklagten freigesprochen. Ihm war zur Last gelegt worden, er habe am 16.10.2017 gegen 22.04 Uhr auf dem Gelände der Firma Kühne + Nagel in der Kohlhammerstraße 27 in 70771 Leinfelden-Echterdingen mit dem Sattelzug DAF, amtliches Kennzeichen ppp., den dort ordnungsgemäß abgestellten Sattelzug MAN, amtliches Kennzeichen ppp. gestreift und dabei Fremdschaden in Höhe von 3 862,89 € verursacht. Anschließend habe er die Unfallstelle verlassen, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen

Der Freispruch erfolgte aus Rechtsgründen…

„da es sich bei dem Firmengelände der Firma Kühne + Nagel nicht um öffentlichen Verkehrsraum handelt. Das Gelände ist – was auf den Lichtbildern der Polizei so nicht zu erkennen ist, im Bereich der Unfallstelle durch ein massives Eisengitter (und auf der Gebäuderückseite durch Schranken) abgesperrt. Der Personenkreis, der tatsächlich jederzeit Zugang zum Gelände hat (etwa 40 Fahrer der Lieferanten) ist eng begrenzt; die Fahrer verfügen über den Zugangscode, mit dem das Eisengitter geöffnet werden kann. Nachts gibt es einen Wach- und Schließdienst, der das Tor wieder schließt, falls es unbeabsichtigt offen geblieben ist.

Dass dieses massive Eisengitter, mit dem das Gelände abgeschrankt ist, tagsüber auch über einen längeren Zeitraum offen steht, um den Fahrern der LKWs eine ungehinderte An- und Abfahrt zu ermöglichen, ändert nichts daran, dass es für Außenstehende – auch wenn die Zufahrt zeitweilig möglich ist – erkennbar ist, dass das Firmengelände nicht für die Allgemeinheit zur Benutzung zugelassen ist.“