Die zweite „Haftsache“ ist schon etwas älter. Sie ist auch bereits in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht (vgl. z.B. NStZ-RR 2017, 59). Ich hatte sie hier für das Blog aber (leider) nicht auf dem Schirm, bringe den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.10.2016 – 3 Ws 684/16 – aber dann jetzt noch, nachdem mich ein Kollege aus „dem wilden Süden“ 🙂 auf die Entscheidung hingewiesen hat.
Im Beschluss geht es um die Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen. Bei dem Angeklagten handelte es sich um einen 16-jährigen Marokkaner, der im Falle einer Verurteilung wegen des ihm vorgeworfenen versuchten Tötungsdelikt wohl mit einer erheblichen Jugendstrafe zu rechnen hatte. Das OLG war mit der Sache im Rahmen der Haftprüfung durch das OLG nach §3 121, 122 StPO befasst.
Es sieht den Beschleunigungsgrundsatz auf Grund der Umstände des Verfahrens als „noch“ gewahrt:
„Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der 16 Jahre alte Angeschuldigte, für dessen Verfahren das Gebot der besonderen Beschleunigung gilt (§ 72 Abs. 5 JGG), sich bei Beginn der Hauptverhandlung etwas mehr als 7½ Monate in Untersuchungshaft befinden wird und das Verfahren voraussichtlich infolge der in nahem zeitlichen Abstand geplanten weiteren Hauptverhandlungstermine noch vor Ablauf von acht Monaten erstinstanzlich abgeschlossen sein wird. Der Senat hält diese Dauer der Untersuchungshaft bis zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung im Hinblick auf die Bedeutung der Sache, der der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts zugrunde liegt, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um einen überschaubaren Sachverhalt handelt, noch für angemessen und sieht deshalb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gewahrt an.“
Aber das ist nicht unbedingt das interessante an der Entscheidung. Sondern: Das OLG liest der Politik in Baden-Württtemberg die Leviten hinsichtlich einer nach seiner Auffassung viel zu knappen Personalausstattung der Justiz:
„Ergänzend merkt der Senat an, dass Jugendhaftsachen im Hinblick auf § 72 Abs. 5 JGG grundsätzlich Erwachsenenhaftsachen vorgehen. Aber auch Jugendstrafverfahren (wegen des das Jugendgerichtsgesetz beherrschenden Erziehungsgedankens vgl. BGH, NStZ 2010, 94) und Jugendschutzsachen (zum Schutz der Opfer, vgl. auch Medieninformation des baden-württembergischen Ministeriums der Justiz und für Europa vom 10.10.2016), die keine Haftsachen sind, müssen zügig terminiert und abgeschlossen werden können. Im Hinblick auf die mitgeteilte Belastungssituation der Jugendkammer und auf das vom Verteidiger diesbezüglich exemplarisch mitgeteilte Verfahren sowie die (dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren in den letzten Jahren bekannte) Belastungssituation der anderen Straf- einschließlich der Wirtschaftsstrafkammern beim Landgericht R. hat der Haushaltsgesetzgeber (hier konkret: der Landtag von Baden-Württemberg) Abhilfe zu schaffen. Denn die sich ständig wiederholende Bildung von Hilfsstrafkammern, die in der Regel mit Richtern/innen anderer ebenso belasteter Strafkammern besetzt werden, bzw. die temporäre Verteilung von neu eingehenden Haftsachen auf andere (teilweise voll ausgelastete oder ebenso schon überlastete) Strafkammern führen dazu, dass Nichthaftsachen nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen werden können. Die dem Senat u.a. – aber nicht nur – aus dem Bereich der Wirtschaftsstrafkammern bekannten Zustände, in deren Folge Nichthaftsachen mangels unzureichender Personalausstattung mehrere Jahre liegen bleiben müssen, bevor sie verhandelt werden können, wobei teilweise Tatvorwürfe wegen Verjährung eingestellt werden müssen, sind evident rechtsstaatswidrig. Der Senat ist der Auffassung, dass angesichts des geltenden Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen im Regelfall bei einer Dauer des erstinstanzlich gerichtlichen Verfahrens von maximal sechs bis neun Monaten gerade noch von einer Verhandlung „in angemessener Frist“ (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) bezogen auf den Angeklagten (in Jugendsachen) bzw. bezogen auf das Opfer (in Jugendschutzsachen) gesprochen werden kann. Hieraus folgt, dass der Haushaltsgesetzgeber diese strukturellen Defizite abzustellen hat und nicht auf das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) verweisen kann. Dieses Gesetz gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (BVerfG, B. v. 8.4.2013 – 2 BvR 2567/10) dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr (soweit dem Senat bekannt ist, werden Statistiken hierüber nicht geführt) unter Anwendung der sog. „Vollstreckungslösung“ (BGHSt 52, 124) als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden und sich nicht mehr nur auf besondere bzw. außergewöhnliche Umstände zurückzuführende Einzelfälle beschränken.“
Mich würde interessieren, ob sich seit Oktober 2016 irgendetwas geändert hat.
Im Übrigen: Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) und die dadurch eingefügten §3 198, 199 GVG sind also kein Allheilmittel, mit dem man alle Verfahrensverzögerungen rechtfertigen kann.
Mutig an dem Beschluss ist meines Ermessens nicht die Kritik an der Politik.
Mutig wäre Kritik an den Wählern, die wie blöde applaudieren, wenn sich in Krimis jedweden Senders unkonventionelle Polizisten und Staatsanwälte willkürlich über die ihnen gesetzlich auferlegten Regeln halten, um Täter zu überführen und wenn Bundesländer Daten ankaufen, die durch Straftaten erlangt wurden, um das Steueraufkommen zu mehren.
Noch mutiger wäre nicht der erhobene Zeigefinger, sondern ein deutliches: “So nicht mehr!” & die konsequente (rechtsstaatlich gebotene) Freilassung & der Hinweis an Elektorat und Politik, wo die Verantwortung für die daraus etwaig entstehenden Gefahren liegt.