Bei der zweiten BGH-Entscheidung, auf die ich heute hinweisen möchte, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 27.04.2017 – 2 StR 574/16. So weit ersichtlich handelt es sich bei dem Urteil um die erste Entscheidung, die sich mit dem „neuen“ Sexualstrafrecht aufgrund des 50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung – vom 04.11.2016 (BGBl. I S. 2460) befasst (vgl. dazu mein Überblick in StRR 4/2017, 6 ff.). Die Entscheidung betrifft zwar das neue Recht (noch) nicht unmittelbar. Sie nimmt aber zu den mittelbaren Auswirkungen des neuen Rechts auf den Begriff der „Erheblichkeit“ i.S. des Sexualstrafrechts Stellung.
Im entschiedenen Fall hatte das LG den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Dazu hat es festgestellt, dass der Angeklagte während eines Besuchsaufenthalts seiner Tochter in seiner Wohnung am 30.01.2016 mit einer Hand in den Schlafsack seiner knapp 7 1/2 Jahre alten, mit einem T- Shirt und einer Unterhose bekleideten Tochter griff und die Hand in der Absicht, sich sexuell zu erregen, über ihrer Unterhose bis einige Zentimeter oberhalb ihres Genitalbereichs führte und seine Tochter dort streichelte. Das LG hat das als Vergehen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 3 in Tateinheit mit § 176 Abs. 1 StGB bewertet hat. Dagegen die Revision des Angeklagten, die keinen Erfolg hatte.
„… Der Erörterung bedarf nur die Frage, ob bei der Tat des Angeklagten zum Nachteil der Tochter F. (Fall 1 der Anklage), die das Landgericht als Vergehen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 3 in Tateinheit mit § 176 Abs. 1 StGB bewertet hat, eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB vorlag.
1. Die Strafkammer hat zwar bei der rechtlichen Würdigung nicht erläutert, dass das Streicheln der zur Tatzeit siebeneinhalbjährigen Zwillingstochter „über deren Unterhose knapp über deren Genitalbereich“ im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit war (§ 184h Nr. 1 StGB). Das bedurfte aber keiner besonderen Begründung (vgl. Senat, Urteil vom 6. Mai 1992 – 2 StR 490/91, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 1).
Als erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts be-sorgen lassen (vgl. etwa BGH, Urteile vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 24. September 1991 – 5 StR 364/91, NJW 1992, 324; vom 1. Dezember 2011 – 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. Bei Tatbeständen, die Kinder und Ju-gendliche schützen, können weniger strenge Maßstäbe anzulegen sein (vgl. Senat, Urteil vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 184g Rn. 6; Laubenthal in Festschrift für Streng, 2017, S. 87, 95). Letztlich sind aber auch beim Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern (§ 176 StGB) nicht sämtliche sexualbezogenen Handlungen, die sexuell motiviert sind, tatbestandsmäßig. Auszuscheiden sind vielmehr kurze oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen (vgl. Senat, Beschluss vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).
Nach den Feststellungen des Landgerichts lagen sexuelle Handlungen des Angeklagten zum Nachteil seiner zur Tatzeit erst siebeneinhalbjährigen Tochter F. vor, die ersichtlich für das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit waren. Dies folgt aus der Tatbegehung in der besonderen Beziehung zwischen Vater und Tochter, aus dem deutlich unter der Schutzalters-grenze liegenden Alter des Kindes zur Tatzeit, aus der Art der sexuellen Handlung und aus den Begleitumständen, wie der Tatsache, dass das Kind situativ in die nachfolgende Tat zum Nachteil der Zwillingsschwester einbezogen wurde.
2. Die Gesetzesänderungen durch das 50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestim-mung – vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460) geben keinen Anlass zu einer für den Angeklagten günstigeren Bewertung als milderes Recht im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB.
Die Einführung eines Auffangtatbestands für belästigend wirkende körperliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise in § 184i StGB wirkt sich nicht auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit in § 184h Nr. 1 StGB aus (anders aber El Ghazi, ZIS 2017, 157, 160 f.; Lederer, AnwBl. 2017, 514, 517 f.). Der Gesetzgeber bezweckte mit der Einführung des § 184i StGB nicht, bis-her von § 184h Nr. 1 StGB erfasste Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich herauszulösen und diese nunmehr nur noch unter den dort genannten Voraussetzungen in § 184i StGB unter Strafe zu stellen. Ziel der Neuregelung war es vielmehr, bisher strafrechtlich nicht erfasstes Verhalten auch unterhalb der Schwelle des § 184h Nr. 1 StGB zu poenalisieren (BT-Drucks. 18/9097 S. 29).
Ein Einfluss auf die Auslegung des § 184h Nr. 1 StGB ergibt sich auch nicht dadurch, dass die Rechtsprechung bei der Prüfung der Erheblichkeit der sexuellen Handlung auf eine nach Art, Intensität und Dauer sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts abstellt, womit bisher eine Abgrenzung zwischen strafbaren und straflosem Verhalten verbunden war, nunmehr aber nur noch eine solche zwischen Tatbeständen gemäß §§ 174, 176, 177 StGB einerseits und demjenigen des § 184i StGB andererseits vorzunehmen ist. Denn dieser Begriff der „sozial nicht mehr hinnehmbaren Beeinträchtigung“ bezieht sich auf andere, weiterrei-chende Rechtsgüter als dasjenige, das von § 184i StGB geschützt ist.“
M.E. zutreffend.