Ungläubiges Erstaunen war gestern meine erste Reaktion nach dem Lesen des BGH, Beschl. v. 10.05.2017 – 1 StR 145/17. Das ist dann schnell in Verärgerung umgeschlagen und hat bei mir zu der Frage geführt: Wie dumm muss eigentlich eine Strafkammer sein, um sich so zu verhalten wie es eine Strafkammer in einem Verfahren wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. beim LG Nürnberg-Fürth getan hat. Oder ist es etwa keine Dummheit, sondern die Arroganz der Macht oder – wir sind in Bayern – die Überlegung „mia san mia“.
Folgender Verfahrensgang liegt dem BGH-Beschluss zugrunde: Der Verteidiger des Angeklagten hat auf Grund eines Antrags auf Gewährung von Akteneinsicht vom 05.09.2016 Datenträger mit den Ermittlungsakten zur Einsicht. Am 09.09.2016 gingen bei der Strafkammer weitere Ermittlungsergebnisse ein. Darunter befanden sich auch Berichte der Polizei über die Auswertung des Mobilfunkgeräts des Angeklagten, aus denen sich 11 Aufenthalte des Angeklagten in der Bundesrepublik ergaben. Nach Durchführung der am 25.10.2016 begonnenen und mit Urteil am 15.11.2016 beendeten Hauptverhandlung erhielt der Verteidiger am 04.01.2017 vom LG die dort am 09.09.2016 eingegangenen weiteren Ermittlungsergebnisse übersandt, die ihm und dem Angeklagten bis dahin nicht bekannt waren, weil die Strafkammer nicht über deren Eingang informiert hatte.
Der BGH sieht das zutreffend als eine Verletzung von Art. 6 MRK i.V.m. § 147 StPO.
„Dem Tatgericht, dem zwischen Eröffnungsbeschluss und Hauptverhandlung oder während laufender Hauptverhandlung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft neue verfahrensbezogene Ermittlungsergebnisse zugänglich gemacht werden, erwächst aus dem Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 MRK i.V.m. § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten und seinem Verteidiger durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst nicht für entscheidungserheblich hält; denn es muss den übrigen Verfahrensbeteiligten überlassen bleiben, selbst zu beurteilen, ob es sich um relevante Umstände handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2005 – 1 StR 271/05, StV 2005, 652, 653; Urteil vom 21. September 2000 – 1 StR 634/99, StV 2001, 4, 5 = BGHR StPO § 1 Hinweispflicht 5 mwN).
c) Da die Ermittlungsergebnisse jedenfalls auch die genauen Daten und die Zahl der Aufenthalte des Angeklagten in Deutschland in einem bestimmten Zeitraum zum Gegenstand hatten und sich damit unmittelbar auf das Kerngeschehen des mit der zugelassenen Anklage erhobenen Tatvorwurfs bezogen, und die Strafkammer den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 21 Fällen verurteilt hat, kann der Senat nach dem Revisionsvorbringen zur behaupteten Beweisrelevanz (hier zudem schon wegen ihres Umfangs) nicht ausschließen, dass der Angeklagte bei einem Hinweis auf die Ermittlungsergebnisse diese dann ausgewertet und sich weitergehend als geschehen hätte verteidigen können.“
Dem muss man m.E. nichts hinzufügen, außer: Für mich unfassbar. Da kommt in der Strafkammer niemand auf die Idee, dass man die neuen/weiteren Ermittlungsergbnisse dem Angeklagten und seinem Verteidiger zur Kenntnis bringen muss? Wie gesagt: Wie dumm muss/darf man eigentlich sein? Und wenn es nicht Dummheit war, sondern man ggf. dem Angeklagten/Verteidiger bewusst die zusätzlichen Ermittlungsergebnisse vorenthalten hat, wäre es noch schlimmer.
Das entspricht auch meiner jüngsten Erfahrung. Entweder haben die Bayern eine eigene StPO, oder es herrscht dort wirklich die Arroganz der Macht.
Habe letzte Woche eine Haftbeschwerdeentscheidung von einem namhaften bayerischen Landgericht bekommen die an Arbeitsverweigerung grenzt…
Sicher unfassbar. Andererseits :bewusstes Vorenthalten halte ich füreher fernliegend, da der eine oder andere Verteidiger ja durchaus nochmals Akteneinsicht nimmt (es waren noch knapp 6 Wochen bis zum Beginn der Hauptverhandlung) und die Sicherstellung des Mobiltelefons nicht unbekannt gewesen sein dürfte.
Immerhin hat auch schon Barton bei seinen „Mindeststandards der Strafverteidigung“ die nochmalige Akteneinicht zu Beginn der Hauotverhandlung aufgelistet …
Wir wollen daraus aber jetzt keinen Fehler der Verteidiger machen, oder?
Vermutlich schlicht übersehen … Was auch keine Glanzleistung ist. Dass eine Strafkammer schlicht meint, das sei bedeutungslos, erscheint kaum vorstellbar.
Bisschen viel „schlicht“, aber passt zu der „schlichten“ StK 🙂
Daraus nicht, aber man wird doch auch mal das Verhalten der Verteidiger hinterfragen dürfen.
Was haben die denn hier nach Ihrer Meinung ggf. falsch gemacht?
„Schlicht“ und „dumm“ ist ja ein recht gewagtes Urteil ohne Kenntnis der näheren Umstände.
Alternative Deutungsmöglichkeiten
– neue Ermittlungsergebnisse sind bei der falschen Akte, ggf, eines Parallelverfahrens gelandet
– neue Ermittlungsergebnisse wurden, da die Akten selbst seit 5.9. noch beim Verteidiger zur Akteneinsicht oder auf dem Postweg zurück zum Gerichtwaren, von der Geschäftsstelle irgendwo abgelegt und nach Rückgabe der Akten entweder gar nicht zu den Verfahrensakten gegeben oder zwar dazu gegeben, aber schlichtweg übersehen
Das sind Pannen, die passieren, Näheres weiß man nicht und sich ein Urteil anzumaßen, dass andere zu blöde sind für ihren Job wage ich persönlich bei solch dürftigen Infos eher nicht.
Bei gezieltem Vorenthalten wäre es ja richtig ungeschickt, die Nachermittlungsergebnisse dann nach der HV dem Verteidiger mit zu übersenden..
Ist ja nett, wenn Sie sich für Ihre Kollegen in die Bresche werfen, aber: Im BGH, Beschluss heißt es: „Am 9. September 2016 gingen bei der Strafkammer weitere Ermittlungsergebnisse ein (SA S. 979 – 1230).“ Das sind 251 Seiten und die landen dann mal eben bei einer anderen Akte/in einem Parallelverfahren, was niemand merkt? Auch die Bearbeiter des anderen Verfahrens nicht? Und wie sind diese Aktenteile dann bitte zur richtigen Akten gekommen? Und 251 Seiten werden ggf. im richtigen Verfahren „übersehen“? Im Übrigen: Es gibt Retente. Das kann man wohl alles kaum als „Panne“ ansehen.
Man hört dann gelegentlich vom Gericht Sätze wie: „Kann ich doch nix dafür, wenn Sie nicht noch mal Akteneinsicht beantragen…“ Offenbar ist die Kenntnis, daß man auch ohne Akteneinsichtsgesuch über neue Ermittlungsergebnisse informieren muß, bei Gerichten nicht sehr weit verbreitet.
Immer öfter erlebe ich in letzter Zeit auch, daß man weder im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht erhält noch das Gericht die Anklage an den Verteidiger zustellt, obgleich sich ein Akteneinsichtsgesuch und mehrere Erinnerungen in den Akten befinden. Auf entsprechende Dienstaufsichtsbeschwerden heißt es dann immer, es habe sich um bedauerliche Versehen gehandelt, Staatsanwaltschaft und sachbearbeitende Richter hätten leider sämtliche Schriftsätze des Verteidigers „übersehen“ – kein Anlaß für dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen. Für meinen Geschmack sind das inzwischen recht viele und kaum mehr nachvollziehbare „Versehen“. Sind StAs und Gerichte inzwischen so überlastet, daß sie vor Anklageerhebung / -zustellung nicht einmal mehr die Akte durchblättern können?
Das ganze ist ja noch „verzeihlich“, wenn zumindest sodann im Zwischenverfahren Akteneinsicht gewährt wird (freilich nur auf weitere Anforderung). Wenn aber dem Mandanten ein Strafbefehl zugestellt wurde und dieser nicht reagiert, in der Meinung, der Verteidiger habe ebenfalls eine Ausfertigung erhalten (was „natürlich“ entgegen § 145a StPO unterblieben ist), haben diese „Versehen“ leider rechtskraftschaffende Wirkung.
Genau den oben zitierten Satz habe ich heute Mittag wieder gehört…