SV-Gutachten im Bußgeldverfahren, oder: Bleibt die Staatskasse auf den Kosten sitzen?

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Ich hatte vor einiger Zeit über den LG Ingolstadt, Beschl. v. 30.09.2015 – 2 Qs 48/15 berichtet (vgl. „Disziplinierung“ durch „vorauseilenden Gehorsam“, oder: Das zu schnell eingeholte Sachverständigengutachten) . In ihm ging es um die Frage der Anwendung des § 21 GKG im Bußgeldverfahren bei/nach Einholung eines SV-Gutachtens. In dem Verfahren hatte der Verteidiger  lediglich die Übersendung der Messdatei nebst Beweisfoto beantragt, um diese von einem durch den Betroffenen zu beauftragenden Sachverständigen überprüfen zu lassen. Allein das hatte zu einem Beweisbeschluss über die Einholung eines SV-Gutachtens geführt, von dem das AG dann nicht mehr abgerückt ist Das LG Ingoldstadt sagt: Bei einem standardisierten Messverfahren ist diese Vorgehensweise unrichtige Sachbehandlung, wenn keine konkreten Einwände gegen die Messung erhoben werden.

Nun ist mir der LG Berlin, Beschl. v. 20.120.2016 – 512 Qs 43/16 – übersandt worden. Das LG Berlin hat in einem ähnlichen Fall die Voraussetzungen des § 21 GKG verneint. Allerdings unterscheidet sich der Sachverhalt von dem beim LG Ingolstadt an eine rm.E. entscheidenden Stell. Die Betroffene hatte gegen einen Bußgeldbescheid wegen eines Rotlichtverstoßes – Geldbuße 90 EUR – Einspruch eingelegt. Zur Begründung hat sie dann aber ausgeführt, und zwar, dass das vorliegende Messfoto nicht gerichtsverwertbar sei, weil dort zwei Fahrzeuge auf zwei Fahrstreifen sichtbar seien und deshalb davon auszugehen sei, dass das andere – nicht von der Betroffenen geführte – Kraftfahrzeug die Messung ausgelöst habe. Das AG hat daraufhin einen technischen Sachverständigen mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens zu der Frage beauftragt, ob die durchgeführte Messung beweisverwertbar ist oder ob es Anhaltspunkte für Messfehler gibt. Der Einspruch ist dann später von der Betroffenen zurückgenommen worden. Die Betroffene, der die Kosten auferlegt worden sind – das SV-Gutachten hat rund 450 EUR gekostet -, beantragt die Niederschlagung der SV-Kosten. Ohne Erfolg:

„Die Beauftragung des Sachverständigen durch das Amtsgericht Tiergarten stellt keine unrichtige Sachbehandlung im Sinne von § 21 Abs. 1 Satz 1 GVG dar. Nach dieser Vorschrift werden Kosten nicht erhoben, die bei richtiger Sachbehandlung nicht entstanden wären. Eine unrichtige Sachbehandlung liegt jedoch nur dann vor, wenn mit der die beanstandeten Kosten verursachenden Maßnahme gegen eine eindeutige gesetzliche Norm verstoßen worden ist und die Gesetzesverletzung offen zu Tage tritt (vgl. Beschluss des Kammergerichts vom 16. März 2015 ¬1 Ws 8/15 —). Daran fehlt es im hiesigen Verfahren.

Im gerichtlichen Bußgeldverfahren gilt gemäß § 46 OWiG in Verbindung mit § 244 Abs. 2 StPO der Amtsermittlungsgrundsatz. Hiernach ist das Gericht verpflichtet, den ihm unterbreiteten Sachverhalt unter Erhebung aller hierfür erforderlichen Beweise umfassend aufzuklären, um eventuell zu Unrecht erhobene Vorwürfe gegen die Betroffenen zu entkräften. Da die Betroffene gegen die Verwertbarkeit des Messfotos Zweifel angemeldet hatte, konnte nur unter Zuhilfenahme des vom Amtsgericht Tiergarten bestellten technischen Sachverständigen zuverlässig geklärt werden, ob das Kraftfahrzeug der Betroffenen die verfahrensgegenständliche Messung ausgelöst hat und nicht etwa ein daneben befindliches Fahrzeug.

Die Betroffene vor der Beauftragung des technischen Sachverständigen ausdrücklich anzuhören und auf das Kostenrisiko hinzuweisen, war seitens des Amtsgericht Tiergarten nicht geboten. Abgesehen davon, dass die Betroffene die konkreten Zweifel an einer ordnungsgemäßen und gerichtsverwertbaren Messung selbst angebracht hat, existiert kein allgemeiner Grundsatz, wonach kostenverursachende Verfahrensmaßnahmen erst nach Anhörung der Betroffenen erfolgen dürfen (vgl. Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. Juli 2016 — 501 Qs 84/15 — m. w. Nachw.).“

M.E. kann man der Entscheidung im Hinblick darauf, dass die Betroffene hier ja konkrete Bedenken gegen die Verwertbarkeit der Messung erhoben hat, zustimmen. Obwohl: Die Schere zwischen Geldbuße und den Sachverständigenkosten – 90 EUR zu rund 450 EUR, also das Fünf-Fache – ist schon beachtlich. Deshalb sollte man als Verteidiger in dem Zusammenhang nicht die schon ein wenig zurückliegende Rechtsprechung einiger LG übersehen, die davon ausgegangen sind, dass die vorherige Zustimmung des Betroffenen nötig ist, wenn die zu erwartenden Kosten das im Streit stehende Interesse um ein Vielfaches überschreiten (vgl. LG Baden-Baden zfs 1994, 263; LG Freiburg MDR 1993, 911).

Anders natürlich nach wie vor die „Disziplinierungsfälle“ a la LG Ingolstadt.

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