Beim Auswerten der Rechtsprechung, die für eine „Berichterstattung“ im Blog in Betracht kommen könnte, finde ich immer wieder Entscheidungen, die dann auf doch überraschen bzw. nicht „Mainstream“ sind. So z.B. den LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 30.01.2015 – 2 Qs 132/14, in dem es um die Tagessatzhöhe bei einem erwerbslosen Angeklagten ging. Das AG hatte im Strafbefehl wegen Beleidigung einen Tagessatz von 10 € festgesetzt. Dagegen der Einspruch des Angeklagten, der geltend gemacht hat, dass er keinerlei Einkommen erziele, da er mit Haftbefehl gesucht werde und flüchtig sei; er lebe vom Betteln und von Sachspenden seiner Freunde, da er auf der Flucht weder ein Arbeitseinkommen noch Sozialleistungen beziehen könne. Das AG hat den Einspruch verworfen und das damit begründet, dass dem Angeklagten zuzumuten sei, einen Antrag auf ALG-II-Leistungen zu stellen. Dass er sich dem Sozialleistungsbezug mutwillig entzogen habe, indem er sich für ein Leben auf der Flucht entschieden habe, sei kein billigenswerter Grund, die Tagessatzhöhe herabzusetzen.
Das LG Kreuznach sieht das in der Beschwerde anders und hat den Mindesttagessatz von 1 € festgesetzt:
„Der Angeklagte unterhält sich durch Betteln und Sachspenden seiner Freunde und bezieht somit lediglich Einkünfte, welche die Festsetzung des Mindesttagessatzes rechtfertigen.
Der Angeklagte kann unter seinen aktuellen Lebensumständen auch keine anderen Erwerbsquellen erschließen. Im Falle der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit müsste er seinen Arbeitsplatz den Behörden bekannt geben und infolgedessen seine baldige Verhaftung fürchten. Auch für den Bezug von Sozialleistungen müsste er seinen Aufenthaltsort preisgeben und dürfte sich nur mit behördlicher Genehmigung aus diesem Gebiet entfernen, um für Arbeitsangebote erreichbar zu sein (vgl. § 7 Abs. 4a SGB II).
Eine Änderung der von dem Angeklagten gewählten Lebensumstände, um höhere Einnahme zu erzielen, ist ihm nicht zumutbar.
Der Ansatz eines fiktiven Einkommens kommt als Bewertungsgrundlage nur dann in Betracht, wenn zumutbare Erwerbsmöglichkeiten ohne billigenswerten Grund nicht wahrgenommen werden und deshalb kein oder nur ein herabgesetztes Einkommen erzielt wird. Mit der Einbeziehung potentieller Einkünfte soll nämlich insbesondere vorgebeugt werden, dass der Täter die Strafwirkung der Geldstrafe durch Nichtausschöpfen zumutbarer Einkommensmöglichkeiten unterläuft; umgekehrt darf die Geldstrafe nicht durch Verweis auf weitergehende Einkommensmöglichkeiten zu einer unangemessenen Reglementierung des gesamten Lebenszuschnitts führen (vgl. BayOLG, Beschluss vom 2.2.1998 – 1 St RR 1/98 -, zit. nach […], m. w. Nachw.). Für die Annahme eines potentiellen Einkommens im Sinne des § 40 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. StGB ist daher grundsätzlich nur Raum, wenn der Täter seine Erwerbskraft bewusst aus unbeachtlichen Gründen herabsetzt, etwa um die Geldstrafe möglichst niedrig zu halten (BayOLG, a. a. O., m. w. N.).
Die Einkommenslosigkeit des Angeklagten weist vorliegend allerdings keinerlei inneren Bezug zu der verhängten Geldstrafe auf. Wie sich aus dem ablehnenden Bescheid des Jobcenters ergibt, hatte der Angeklagte bereits vor Erlass des Strafbefehls in vorliegender Sache Sozialleistungen beantragt, die ihm wegen seiner fehlenden Erreichbarkeit verweigert wurden. Dass er ein Leben in Armut gewählt hätte, um sich vor der Verhängung einer höheren Geldstrafe zu bewahren, kann schon deshalb nicht angenommen werden. Vielmehr hat der Angeklagte als Grund hierfür seinen Freiheitsdrang angegeben, der es nachvollziehbar macht, dass er sich dem drohenden Vollzug der in anderer Sache verhängten Haftstrafe durch Flucht entziehen will. Dieses Motiv kann nicht als unbeachtlich oder missbilligenswert angesehen werden, wie sich etwa in der grundsätzlichen Straflosigkeit der Selbstbefreiung des Gefangenen zeigt, die darauf beruht, dass „das Gesetz aus humanen Beweggründen dem Freiheitsdrang eines Menschen glaubte Rücksicht schenken zu sollen“ (RGSt 3, 140, 141). Es würde eine unzulässige Einflussnahme auf die daher grundsätzlich zu achtende Lebensentscheidung des Angeklagten darstellen, wenn er über die Heraufsetzung der Tagessatzhöhe mittelbar dazu gedrängt würde, sich den Strafverfolgungsbehörden in anderer Sache zu stellen.
Im Übrigen ist offen, ob der Angeklagte hierdurch überhaupt nachhaltig ein höheres Einkommen erzielen könnte, da er eine aufgenommene Erwerbstätigkeit im Falle der Verhaftung sogleich wieder verlieren würde.“
Vermutlich wird das auch bei einer Tagessatzhöhe von 1 Euro in Ersatzfreiheitsstrafe enden.
Wegen Beleidigung? Das sind vermutlich nicht so viele Tagessätze.
Mit ein paar Pfandflaschen ist das erledigt.
Vermutung aus: 150 Tagessätze.
Dem Angeklagten wird gestattet, die Geldstrafe in monatlichen Teilbeträgen von 10,00 € zu zahlen.
Die Justiz schafft sich ab. Jetzt ist schon die Flucht vor dem Staat ein Grund für eine geringere Strafe. Gesunder Menschenverstand geht anders.
Mir ist unbegreiflich, weshalb das Vereiteln des staatlichen Vollstreckungsanspruchs selbst aus Sicht des Verurteilten nicht rechtlich missbilligenswert sein sollte. Durch die Flucht wird der gerechte Schuldausgleich verhindert und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens aufgeschoben. Der Verurteilte soll für die Flucht nicht erneut bestraft werden, soweit so gut. Dass bedeutet aber nicht, dass die Rechtsgemeinschaft für die Flucht auch noch ein Lob aussprechen muss.
Irrsinn sowas. Und ohne Geld ist es zu Vermögensdelikten ja auch nicht weit.
Von einer Beleidigung – für deren strafrechtliche Relevanz ich ohnehin wenig Verständnis habe – zu einem Vermögensdelikt ist aber ein weiter Weg.
Na ja… Er wird doch wegen eines solchen gesucht. Es ist ja kein Haftbefehl wegen Beleidigung.
Das steht wo?
@Munz
@Torq
Der Rechtsstaat geht unter weil jemand für eine Beleidigung nur 150€ Geldstrafe zahlen muss?
Sie missbilligen es tatsächlich, wenn der Verurteilte kein Hartz4 beantragt, um von der Staatsknete eine höhere Geldstrafe an den Staat entrichten zu können?!
Sie haben ein wahrhaft seltsames Verständnis von Schuld und Sühne.
Nein, ich missbillige es, dass man Geldstrafen herabsetzt, weil sich jemand der Strafverfolgung entzieht und man damit sein Untertauchen fördert.
Ich missbillige die Rechtsauffassung, dass die Entscheidung des Angeklagten für ein Leben auf der Flucht „zu respektieren sei“. Diese These ist abwegig. Denn die Entscheidung für ein Leben auf der Flucht steht im Widerspruch zur Einheit der Rechtsordnung. Das zeigt sich daran, dass die Flucht im Falle der Festnahme durch Vollstreckung der Haft beendet wird – und zwar ohne Rücksicht auf oder Respekt für die selbstgewählte Lebensentscheidung des Angeklagten. Wenn die Flucht in dem ersten Strafverfahren wegen ihrer rechtlichen Missbilligung zum Erlaß eines Haftbefehls führt, dann kann sie in einem anderen Strafverfahren nicht rechtlich gebilligt werden.
Allerdings kann man auch aus der Entscheidung des LG etwas Gutes lernen. In vergleichbaren Konstellationen bietet es sich gegebenenfalls an, NICHT im Beschlußwege über die Tagessatzhöhe zu entscheiden, sondern die Hauptverhandlung für erforderlich zu halten, Haftbefehl zu erlassen und das Verfahren bis zur Festnahme vorläufig einzustellen. Nach der Festnahme wäre der Haftbefehl aufzuheben und – je nach Terminslage – HVT nach der Vollstreckung in anderer Sache anzuberaumen. Dauert die Vollstreckung länger an, so könnte man dann im Beschlußwege entscheiden und einen für Gefangene angemessenen Tagessatz verhängen. Dessen Kurs beläuft sich bei uns im Augenblick auf € 5,00.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Rechtsauffassung dieser Kammer Nachahmer findet.
Hoffen wir’s.
Die Auffassung der Kammer hat einiges für sich. Es geht ja nicht darum, den Angeklagten zu begünstigen. Sein Einkommen ist schlicht falsch geschätzt worden und die Frage ist, ob diese falsche Schätzung deshalb aufrecht zu erhalten ist, weil er es böswillig unterlässt, Einkommen zu erzielen und man ihm deshalb fiktive Einnahmen anrechnen dürfte. Es ist immerhin ein Grundsatz von Verfassungsrang, dass niemand gezwungen werden darf, aktiv seine eigene Bestrafung zu fördern. Danach ist es durchaus folgerichtig, dass die Kammer hier die unterlassene Erzielung von Einkommen als nicht misbilligenswert ansieht, weil ein solcher Versuch unmittelbar zu seiner Verhaftung führen würde.
Eine ganz andere Frage ist es, ob der Gesetzgeber nicht in Zeiten, in denen schon der Sozialhilfeempfänger Tagessätze von 10-15 Euro bekommt, nicht die gesetzliche Mindesthöhe des Tagessatzes mal anheben sollte, um zu vermeiden, dass die verbleibende kleine Gruppe nicht sozialleistungsberechtigter Armer selbst vergleichsweise hohe Ersatzfreiheitsstrafen durch ein paar Pfandflaschen abbezahlen kann.