Die Verkehrsrechtler sind in der letzten Zeit ein wenig kurz gekommen. Das liegt vor allem daran, dass es zwar ganz interessante Entscheidungen gibt/gegeben hat, die liegen aber leider noch nicht im Volltext vor. Und über PM berichte ich ja nicht so gern, jedenfalls „in der Regel“. Aber es gibt den Volltext zum OVG Münster, Beschl. v. 02.03.2015 · – 16 B 104/15 – mit einer „8-Punkte-Problematik“. Der Beschluss ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergangen. Dem Antragsteller war im Oktober 2014 wegen Erreichung der 8-Punkte-Grenze die Fahrerlaubnis mit sofortiger Wirkung entzogen worden. Die Verwaltungsbehörde hatte das auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Der Antragsteller hat dann geltend gemacht, das die Punkteberechnung falsch ist. Eine vor der Zustellung der Verwarnung begangene Zuwiderhandlung aus Juni 2014 (Benutzung eines Mobiltelefons, geahndet mit 1 Punkt) hätte außer Betracht bleiben müssen, sodass er nur 7 Punkte habe. Das OVG hat die aufschiebende Wirkung der Klage wieder hergestellt.
„Vorliegend ist § 4 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 anwendbaren Fassung vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313) anwendbar, da auf den Zeitpunkt des Ergehens der Entziehungsverfügung vom 20. Oktober 2014 abzustellen ist. Die letzte Änderungsfassung des § 4 StVG vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) ist nicht anwendbar. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist nämlich auf die Sach? und Rechtslage im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten. BVerwG, Urteil vom 27. September 1995 ? 11 C 34.94 ?, BVerwGE 99, 249 = juris, Rn. 9, und Beschluss vom 22. Januar 2001 ? 3 B 144.00 ?, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Mai 2006 ? 16 B 1093/05 ?, VRS 111 (2006), 230 = juris, Rn. 5 f., und vom 23. April 2012 ? 16 E 22/12 ?.
In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies der Zeitpunkt des Erlasses der streitbefangenen Ordnungsverfügung.
Für die Beantwortung der Frage, wann sich acht Punkte im Sinne von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ergeben, kommt es auf den Tag der Begehung der letzten zum Erreichen dieser Punkteschwelle führenden Tat an. Dies ist Ausdruck des nunmehr gesetzlich fixierten Tattagprinzips. Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Zur Rechtslage nach dem StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung etwa OVG NRW, Beschluss vom 17. Juni 2013 – 16 B 547/13 -, juris, Rn. 2 ff., m.w.N. auf die Rechtsprechung des BVerwG und des erkennenden Senats.
Einem Fahrerlaubnisinhaber, zu dessen Lasten sich im Verkehrszentralregister acht (oder mehr) Punkte ergeben haben, ist die Fahrerlaubnis daher unabhängig von später – vor oder nach Erlass der Entziehungsverfügung – eintretenden Punktetilgungen zu entziehen (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG).
Das Tattagprinzip ist auch bei Anwendung der Bonusregelung des § 4 Abs. 6 StVG zugrundezulegen. Das dort und in Absatz 5 verankerte Maßnahmensystem der Ermahnung bei Erreichen von vier oder fünf Punkten, der Verwarnung bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten und der Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht oder mehr Punkten (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG) sieht vor, dass die Maßnahmen zwei und drei erst dann ergriffen werden dürfen, wenn die jeweils davor liegende Maßnahme bereits zuvor ergriffen worden ist (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Falls die Fahrerlaubnisbehörde sich nicht an diese Schrittfolge hält, verringert sich, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis sechs oder acht Punkte erreicht oder überschreitet, der Punktestand auf fünf Punkte (Satz 2); wenn der Betroffene acht Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Maßnahme der Verwarnung ergriffen worden ist, verringert sich der Punktestand auf sieben Punkte (Satz 3). Entsprechend dem Gedanken des Tattagprinzips kommt es bei Anwendung der Regelungen über die Reduzierung von Punkten darauf an, ob die Zuwiderhandlungen zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegen und ob die begangene Straftat oder Ordnungswidrigkeit rechtskräftig geahndet worden ist. Anderenfalls wäre die Anwendung der „Bonusregelung“ davon abhängig, ob die Fahrerlaubnisbehörde von den Verstößen bereits Kenntnis erlangt hat oder den bereits bekannten Verstoß in die Punkteaufstellung eingestellt hat. Die Auswirkung von solchen Zufällen widerspräche möglicherweise einer berechenbaren Anwendung des Gesetzes und damit den rechtsstaatlichen Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG zur Rechtssicherheit. Denn die hier in Rede stehende Verlässlichkeit ist ein wesentliches Element der Rechtsordnung. Dahinter verbirgt sich die rechtsstaatliche Forderung, dass staatliche Hoheitsakte einerseits so klar und bestimmt und andererseits so beständig sein sollen, dass sich der Bürger auf sie hinreichend verlassen kann. Ohne ein Mindestmaß an solcher Verlässlichkeit bleibt das Handeln des Staates für den Bürger unvorhersehbar und damit sowohl unberechenbar als auch unverständlich.“
Das Problem dürfte allerdings derzeit darin bestehen, dass es Fahrerlaubnisbehörden gibt, die der Auffassung sind, dass mit der Novellierung von November 2014, der Erziehungsgedanke weggefallen sei, der Hintergrund für die 3-Stufigkeit des Verfahrens war. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Fahrerlaubnisbehörden, deren Aufgabe es ist, die Punkte verbindlich festzulegen, darauf angewiesen sind, dass das KBA per Post Auskünfte und Mitteilungen weitergibt. Eine obergerichtliche Entscheidung in Bayern steht noch aus, derzeit gibt es wohl zwei Verwaltungsgerichte, nämlich Ansbach und Regensburg, die jeweils unterschiedlicher Meinung sind, welche Auswirkungen die Novellierung auf solche Fallkonstellationen hat.