Das KG hat mit Urt. v. 29.11.2010, (4) 1 SS 424/10 (237/10) ein freisprechendes Urteil des AG Tiergarten aufgehoben. Diesese hatte die Angeklagte vom Vorwurg der versuchten Brandstiftung freigesprochen. Die Angeklagte soll am 18. Mai 2009 in Berlin-Friedrichshain versucht haben, unter Verwendung von Grillkohleanzünder einen Pkw in Brand zu setzen. Das Amtsgericht Tiergarten vermochte nicht auszuschließen dass es bei der Täteridentifizierung zu einer Verwechselung gekommen ist. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft ist vom Landgericht Berlin mit Urteil vom 29. Juni 2010 verworfen worden, da auch die Berufungskammer der Ansicht war, die Angeklagte nicht aufgrund der festgestellten Beweisanzeichen verurteilen zu können.
Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hatte mit der Sachrüge Erfolg. Der 4. Strafsenat des Kammergerichts hat die Beweiswürdigung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft beanstandet. Das Landgericht hatte einzelne Indizien in einer isolierten Betrachtung nach dem Zweifelsgrundsatz für entkräftet gehalten und ihnen damit nach Auffassung des Senats nicht das ihnen zukommende Gewicht beigemessen, vor allem aber keine hinreichende Gesamtwürdigung aller festgestellten belastenden und entlastenden Indizien vorgenommen. Der Senat hat deshalb das Urteil des Landgerichts Berlin aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Berufungskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das KG sagt: Der Freispruch war rechtsfehlerhaft, weil die zugrunde liegende Beweiswürdigung in sich lückenhaft ist. Davon seiauszugehen, wenn der Freispruch auf der Aussage eines Polizeibeamten basiert, der einerseits bekundet, dass er das Gesicht des vermeintlichen Täters in der Dunkelheit nicht habe erkennen können, sich aber andererseits sicher sei, dass es sich um eine männliche Person in dunkler Kleidung gehandelt habe. Ohne Mittelung weiterer Tatsachen hinsichtlich der Frage, warum der Beamte zu diesem Schluss gelangt ist oder einer Darstellung sonstiger körperlicher Merkmale des Tatverdächtigen und der letztlich angeklagten Frau ist ein Freispruch nicht zu halten, weil insoweit zumindest darzustellen ist, warum es sich aus objektiver Sicht bei dem Täter nur um einen Mann gehandelt haben kann.
Wo ist das Basecap hin?
dass die angeblich fehlende gesamtwürdigung der indizien ein beliebtes mittel der revisionsgerichte ist, um missliebige urteile zu kippen, ist ja bekannt.
dass allerdings in diesem fall eine gesamtwürdigung zu einem anderen ergebnis führen soll, halte ich doch für ziemlich fragwürdig. letztlich handelt es sich offenbar um eine angeklagte, die dem staat gegenüber nicht unbedingt wohlgesonnen ist und die im weiteren umfeld eines brandanschlags (der nächste liquor store) angetrunken aufgegriffen wurde. dort macht sie bei der festnahme noch ein paar sperenzchen, zerreißt die ihr über die hände gezogenen papiertüten. und das – in verbindung mit in der wohnung vorhandenen einweghandschuhen (in jedem besseren kfz-verbandskasten vorhanden) und grillanzünder (ebenfalls in jedem ordentlichen deutschen haushalt vorhanden) – soll im wege einer gesamtwürdigung geeignet sein, den tatnachweis zu führen???
@n.n:
Da muss ich Ihnen widersprechen, was die „Indiziendekonstruktion“ angeht. Es ist vielmehr ein beliebtes Vorgehen insbesondere zivlirechtlich „vorbelasteter“ Richter (bei non liquet weise ich die Klage/Widerklage/(Hilfs)Aufrechnung eben ab/zurück), sich nicht klar zu entscheiden, sondern an den Einzelindizien anzusetzen. Egal, wie man zum 1. Strafsenat stehen mag: in Bender/Nack ist es eigentlich recht deutlich vorexerziert (und das wird nicht einmal in einem recht revisionsgerichtskritischen Buch aus Anwaltssicht wie dem „Handbuch der Beweiswürdigung“ abgelehnt): der Richter muss sich entscheiden:
– ist ein Indiz erwiesen
– wenn ja: ist es neutral/belastend/entlastend.
Erst wenn alle Indizien derart gewürdigt sind, kann die Gesamtwürdigung ansetzen und nicht vorher.
Man kann es auch recht anschaulich formulieren: ‚
Der Indizienbeweis ist wie ein Puzzle. Nur weil man zu Beginn das Motiv nicht kennt, das im fertigen Puzzle erscheint, kann man nicht bei jedem Puzzleteil sagen: also das zeigt doch keinen (setze: Pferd, Hund, See). Das könnte ja auch (setze: Wildschweinfell, Katzenfell, Ausschnitt eines Himmels) sein. Der „Indizienentwerter“ geht aber genau so vor: „Das Teil, das ich in der Hand halte, könnte ja irgendetwas anderes darstellen. Also werfe ich das Teil weg, es taugt ja nichts.“
Und nachdem er jedes Teil so weggeworfen hat, hat er auch kein Gesamtbild.
Der Bender / Nack hat ja als Pionier seine Verdienste, ist aber auch nicht unumstritten, mal lese dazu einen Artikel im aktuellen Spiegel. Fehlt einem Zivilrichter das Freislersyndrom?
Wenn ein non liquet besteht, ist der Angeklagte freizusprechen, der Richter muss doch nicht von der Unschuld des Angeklagten überzeugt sein. Ist doch oft so, das ein Sachverhalt nicht aufgeklärt werden kann, und Zweifel bleiben. Sehe keine Unterschiede zum Zivilrecht, wenn dort Vollbeweis (also ohne Anscheinsbeweis, Beweislastumkehr oä.) verlangt wird. Wenn man es nicht für erwiesen hält, das die hockende Person ein Mann war, dann könnte man zur Verurteilung gelangen, wenn man es nicht für erwiesen hält, das die gesehene Person, die der Angeklagten ist, eher zum Freispruch. Der Zwang zum Entscheiden müssen kann zu dann zu Fehlurteilen führen. Den größten Blödsinn halte ich das Anfordernis, Merkmale zu nennen, woran das Geschlecht einer Person oder eine bestimmte Person zu erkennen ist. Mit hoher Treffsicherheit schafft das jeder in Bruchteile von Sekunden ohne das an Merkmalen erklären zu können. Die Gefahr der Puzzlemethode ist, das sich ein Bild stimmig gebastelt wird, was aber nur weil es in sich stimmig ist, kein Abbild der Realität ist.
Ähm, das mit dem Freislersyndrom meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst?
Ich wollte mit dem Hinweis auf Zivilrichter nur andeuten, dass es jedenfalls in Zivilsachen (wo es ja meist „nur“ um’s liebe Geld geht, manchen natürlich nicht um’s Geld, sondern um’s Prinzip…) mE eher verbreitet ist, sich auf eine „Nichtüberzeugung“ hinauszuflüchten. Eine genaue Aussageanalyse oder Glaubwürdigkeitsprüfung unterbleibt dann häufig,Klägerzeuge und Beklagtenzeuge sind laut Urteil beide glaubhaft, beide glaubwürdig, also non liquet und aus die Maus.
Faktisch sind die Standards, die Gerichte bei der Beweiswürdigung und der richterlichen Überzeugungsbildung befolgen, im Zivilrecht und Strafrecht unterschiedlich, obwohl dies rechtlich und methodisch nicht zu rechtfertigen ist.
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@ meine5cent
nicht dass das hier jetzt falsch ankommt, ich habe nichts gegen die gesamtwürdigung von indizien. und mit zivilrecht habe ich auch nicht so fürchterlich viel am hut. 😉
meine kritik richtet sich ganz konkret gegen das aufhebende urteil des KG und die begründung desselben. denn bei der durch die ersten instanzen offenbar gründlich aufgeklärten indizienlage scheint mir das urteil des KG doch sehr vom ergebnis getragen zu sein. zumindest für mich liest sich der beschluss wie eine direkte ansage an das LG: „nun seid mit den realitätskennzeichen bei der aussage des polizeibeamten mal ein bisschen großzügiger und dann werft noch mal einen wohlwollenden blick auf die gesamtlage, dann wirds schon für ne verurteilung reichen!“
und das halte ich für einen haarspalterischen und missbräuchlichen eingriff in die freie beweiswürdigung des § 261 stpo.
nach meiner bescheidenen meinung ist die tendenz der berliner justizbehörden bei den sog. fällen linker gewalt nicht unproblematisch.
Mit dem Freislersyndrom war nicht so gut. Aber auch im Zivilrecht werden doch nicht einfach Zeugen abgezählt und danach das Urteil gefällt. IGerade weil die Folgen im Strafrecht gravierender sind, muss doch noch stärkere Anforderungen an den Beweis bei einer Verurteilung geführt werden. Nur weil einer Angeklagter ist, muss dessen Aussage nicht unglaubhafter sein, als die des Zeugen. Der Fehler ist einen Angeklagten schon als schuldig anzusehen, nur weil er in der Position des Angeklagen ist oder wie hier, die Angeklagte gehört einer bestimmten Szene an, da wird sie es schon gewesen sein.
Vielleicht gehen da Zivilrichter objektiver an die Sache und es fehlt ihnen das Bedürfnis, den Angeklagten verurteilen zu müssen, obwohl es nicht genügend Beweis gibt.
Die Gründe des Landgerichts waren ausreichend, vernünftige Zweifel an die Täterschaft der Angeklagten haben zu dürfen.