Zum 01.01.2010 ist § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO – der Pflichtverteidiger für den inhaftierten Mandanten – eingeführt worden. In Sachsen hat jetzt die FDP-Fraktion eine kleine Anfrage zur Beiordnungspraxis gestellt. Die Antworten sind. soweit die AG dazu etwas sagen konnten – ganz interessant.
Wer Interesse hat, kann es hier nachlesen: Kleine Anfrage Sachsen 5_Drs_2642_-1_1_5_ (2). Passt auch ganz gut zu den Thesen der BRAK, über die wir vor einigen Tagen berichtet hatten.
Hallo Kollege Burhoff.
Meine Erfahrungen in Berlin mit der Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls auf Grundlage des § 140 Abs. 1 Nr.4 StPO sind gemischt, eher negativ.
Tatsache ist zunächst, dass zumindest in Berlin ein teilweise erbitterter, in jedem Falle dann rücksichtsloser und unkollegialer Kampf um jedes Mandat tobt. Um die Interessen der Mandanten geht es dabei nicht mehr, dieser Konkurrenzkampf wird letztlich auf ihrem Rücken ausgetragen. Hier eine Masche, die mir in den letzten Monaten mehrfach und zunehmend oft begegnet: der Verteidiger besorgt sich unter der falschen Behauptung, Angehörige hätten ihn beauftragt, zwecks Mandatsanbahnung Kontakt mit dem Untersuchungshäftling aufzunehmen, bei der Staatsanwaltschaft einen Sprechschein. Beim Besuch des U-Häftlings lässt man sich mandatieren, obwohl bereits ein Pflichtverteidiger zum Zeitpunkt der Vollstreckung des Haftbefehls gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bestellt wurde. Natürlich teilt der neu geborene Wahlverteidiger dem Pflichtverteidiger weder die beabsichtigte noch die erfolgte Mandatierung mit. Ein Entpflichtungsantrag durch den Beschuldigten wird nicht gestellt.
Und siehe da, kurze Zeit nach Anzeige des Wahlmandats quillt aus dem Fax des (ehemaligen) Pflichtverteidigers, ohne vorausgegangene Ankündigung, Möglichkeit der Stellungnahme, der auf § 143 StPO gestützte Entpflichtungsbeschluss des Landgerichts.
Die Zurücknahme der Bestellung nach § 143 StPO soll ua. dann nicht erfolgen, wenn die Beauftragung des Wahlverteidigers nur geschieht, um die Zurücknahme des bisherigen Pflichtverteidigers zu erzwingen und zu erreichen, dass der Wahlverteidiger an dessen Stelle Pflichtverteidiger wird (§ 143, Kommentar Meyer-Goßner, Rn.2 m.w.N.). So die Kommentarliteratur und auch einige obergerichtliche Entscheidungen. Die Praxis in Berlin erlebe ich aber anders.
In den von mir erlebten Fällen hat sich das Landgericht Berlin daran nicht gehalten. Nach meiner Entpflichtung wurden die Wahlverteidiger beigeordnet.
Besonders erquickend ist es, wenn die Entpflichtung 7 Monate nach der Beiordnung in der Sitzung am 1. Hauptverhandlungstag erfolgt und der anwesende Wahlverteidiger an Stelle des bisherigen Plichtverteidigers beigeordnet wird. Das sind jedenfalls meine Erfahrungen.
Ungeachtet der Tatsache, dass nach meiner Auffassung § 143 StPO ein ausschließlich fiskalischer Hintergrund zukommt und mir schon deshalb bedenklich erscheint, trägt er mit der dargelegten Anwendungspraxis des Landgerichts unmittelbar dazu bei, dass der gezielten Mandatsabwerbung – nichts anderes ist es für mich – das Tor weit geöffnet wird.
Kann man dagegen vorgehen? Etwa mit einem Schreiben an den Präsidenten des Landgerichts, in der Hoffnung, dass diese Praxis der Richter abgeändert wird? Ihre und die Meinung anderer Kollegen würde mich interessieren.
Wie wäre es statt dessen mit standesrechtlichen Sanktionen gegen den unlauteren Kollegen?
Standesrechtliche Sanktionen? Ich habe bisher nichts passendes gefunden. Und § 15 BRAO dürfte nicht greifen, denn die Übernahme des Wahlmandats an sich beendet nicht automatisch die Pflichtverteidigung. Und die Abwerbung wird man nur behaupten, nicht wirklich beweisen können.
Aber selbst wenn man standesrechtlich vorgehen würde (könnte) gegen einzelne Kollegen: das Grundproblem löst man damit nicht, denn das ist ein Massenphänomen. Ich habe keine wirkliche Lösung parat.
Hallo, ein bekanntes Problem, gegen das man allerdings wenig ausrichten kann. Ein Schreiben an den Präsidenten des LG wird m.E. nichts bringen. Sie werden m.E. eine Antwort bekommen, in der auf Art. 98 GG hingewiesen wird. Rechtsmittel gegen die Entpflichtung hat der entpflichete Pflichtverteidiger nach wohl h.M. auch nicht, nur der Beschuldigte könnte dagegen vorgehen. Aber der hat daran ja kein Interesse. Es gibt wegen des Rechtsmittels eine Mindermeinung, die das zulässt (vgl. die Nachweise in meinem Handbuch, EV, Rn. 1294). Vielleicht sollte man unter Berufung darauf dann doch mal Beschwerde einlegen und sehen, was das KG macht. Und schließlich: Standesrechtlich natürlich nicht schön und wenig kollegial, aber „Sankzionen“? Ich sehe nicht welche.
Na, § 15 Abs. 2 BORA sollte es doch mindestens sein. Und wenn es keine berufsrechtlichen Einschränkungen für das „Abwerben“ von Mandanten gibt, liegt dort doch trotzdem der Hund begraben und nicht bei den Gerichten.
Mag sein, dass § 15 Abs. 2 BORA greift. Dennoch liegt – auch – bei den Gerichten der Hund begraben. Denn schnell kann es zur Aussetzung eines Verfahrens kommen, wenn z.B. bei 5 Angeklagten 4 von Pflichtverteidigern, einer von einem W-verteidiger verteidigt wird, plötzlich das Wahlmandat durch den Angeklagten beendet wird und nun erst ein neuer Verteidiger her muss, der Zeit zur Einarbeitung braucht. Es müßte also auch im Interesse des Gerichts sein, in Fällen der notwendigen Verteidigung die Durchführung des Hauptverfahrens sicher zu stellen.
Wer es nötig hat, sich durch falsche Angaben eine Sprecherlaubnis zu erschleichen (Strafbarkeit?), einem anderen Anwalt einen U-Häftling abzuwerben, um sich sodann in der Hauptverhandlung zum Pflichtverteidiger bestellen zu lassen, u.U. sogar unter Verzicht auf die bislang dem ersten Verteidiger entstandenen Gebühren, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.
Was ist im übrigen dagegen einzuwenden, wenn man am ersten Hauptverhandlungstag abgelöst wird? Die Hauptverhandlung ist nervig und unlukrativ. Da ist man für die Ablösung doch geradezu dankbar. Gerade Platz genommen und schon darf man wieder gehen und sich attraktiveren Mandaten widmen, die Terminsgebühr noch mitnehmend.
ME sollte wie vom OLG Hamm, Beschl. v. 29.12.2009 – 3 Ws 504/09 (zitiert in der BRAK-Stellungnahme) vertreten ein Einladungsschreiben des Beschuldigten verlangen.
Es steht den Angehörigen frei, Briefmarken in die JVA zu schicken.
In München ist die Situation mE ähnlich wie in Berlin. Selbst bei Wahlmandaten werden unter Berufung auf Aufträge der angeblichen Lebensgefährtin (nachdem der Besch. seine Ehefrau bei der Festnahme angerufen und gebeten hat, den altbekannten Wahlverteidiger zu beauftragen und dies auch geschehen ist…) auswärtige Wahlverteidiger ausgebootet.
Bei der Pflichtverteidigung sollte konsequent die Rechtsprechung zum „Herausschießen“ des Pflichtvtg. durch den neuen Wahlvtg. angewendet werden.