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OWi I: Eine „Basta-Entscheidung“ des AG Leipzig, oder: Vollständige Einsicht in die gesamte Messreihe

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Und weil es gestern so schön war, gibt es heute dann gleich noch einmal OWi-Entscheidungen. Heute dann zum Verfahrensrecht.

Und ich beginne mit dem AG Leipzig, Beschl. v. 05.06.2025 – 221 OWi 504 Js 32466/25 -, in dem sich das AG noch einmal zur (Akten)Einsicht in die gesamte Messreihe bei einem standardisierten Verfahren geäußert hat. Der ein oder andere wird jetzt denken: Nicht schon wieder. Doch, schon wieder. Denn der Beschluss hebt sich aus der Reihe der „normalen“ Beschlüsse zu dieser Thematik heraus. Im Grunde hätte das AG der Bußgeldbehörde auch schreiben können: Wie oft muss man denn noch erklären, dass der Betroffene/Verteidiger einen Anspruch auf die Einsicht in die gesamte Messreihe hat und es völlig egal ist, wie die Bußgeldbehörde das bewerkstelligt. Es besteht der Anspruch, der ist zu erfüllen und damit: Basta.

Das AG führt das aber eine wenig „netter“, aber nicht weniger deutlich aus, und zwar:

„Die Bußgeldbehörde ist der Ansicht, an der Herausgabe der Fotosequenz aufgrund datenschutzrechtlicher Gründe gehindert zu sein.

Der Antrag auf Herausgabe ist stets und in allen Fällen zulässig und begründet.

Beim tatgegenständlich verwendeten Messverfahren handelt es sich um ein sog. Standardisiertes Messverfahren. Dies hat prozessual zur Folge, dass die Betroffenen mit der pauschalen Behauptung, sie seien nicht zu schnell gefahren und die Messung sei fehlerhaft, nicht gehört werden. Vielmehr obliegt es Ihnen, „substantiiert“ vorzutragen, aus welchen Gründen die durchgeführte Messung fehlerhaft ist. Der Betroffene hat demnach konkrete und einer Beweiserhebung zugängliche Umstände anzuführen, um eine Messung in Zweifel zu ziehen. Dies führt – prozessual untechnisch formuliert – zu einer „Beweislastumkehr“, die dem Betroffenen neben dem Recht auf Einsicht in die bereits bei der Verfahrensakte befindlichen Beweismittel wegen des Grundsatzes des fairen Verfahrens die Möglichkeit eröffnen muss, die Messung unter Hinzuziehung eines Sachverständigen auf mögliche Messfehler zu untersuchen.

Für eine solche Überprüfung benötigt er zwangsläufig den Zugang zu den Messunterlagen, insbesondere zu den Daten in Form des vollständigen Messfilms. Denn erst die Auswertung dieser Daten versetzt den Betroffenen in die Lage zu entsprechendem, konkretem Sachvortrag, der dem Gericht Anlass dazu geben kann, entsprechenden Beweisanträgen nachzugehen. Gerade durch die Überprüfung sämtlicher Messungen einer Messserie können bei einer möglicherweise auftretenden gewissen Fehlerhäufigkeit innerhalb einer Messserie Zweifel an der Richtigkeit sämtlicher Messungen der Messserie entstehen.

Da es dem Betroffenen aufgrund des standardisierten Messverfahrens obliegt, konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vorzutragen, damit überhaupt eine Beweiserhebung über die Korrektheit der Messung durch das Gericht in Betracht kommt, sind ihm die Daten der gesamten Messserie zur Verfügung zu stellen. Wird dem Betroffenen dies versagt, wird ihm die Möglichkeit verwehrt oder aber zumindest unangemessen erschwert, die Daten auf Fehler untersuchen zu lassen, die der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit zugrunde liegen. Dann aber ist dem Betroffenen sein ureigenes Recht verwehrt, aktiv am Gang und Ergebnis des Verfahrens mitzuwirken (vgl. BVerfGE 46, 202).

Der Betroffene kann diesbezüglich auch nicht auf die Möglichkeit des Einspruchs und das anschließende gerichtliche Verfahren verwiesen werden. Wie bereits vorstehend ausgeführt, kommt eine Beweiserhebung regelmäßig nur in Betracht, wenn der Betroffene konkrete Umstände zu einem Messfehler vorträgt. Kennt er die gesamte Filmsequenz nicht bzw. kann diese nicht unverschlüsselt auslesen, so wird ihm diese Möglichkeit zumindest teilweise genommen. Ein Beweisantrag des Betroffenen wäre dann „ins Blaue hinein“ gestellt und vom Gericht abzulehnen. Wird ein Herausgabeanspruch erst im gerichtlichen Verfahren oder gar erst in der Hauptverhandlung gestellt und das Gericht gezwungen, die Verhandlung daraufhin auszusetzen, würde dies zu einer unnötigen Verfahrensverzögerung in einer durch kurze Verjährungsfristen geprägten Prozessordnung führen. Das Einsichtsrecht steht dem Betroffenen ohnehin nicht gegenüber dem erkennenden Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung zu. Vielmehr wäre er darauf zu verweisen, die Einsicht in die Messdaten außerhalb der Hauptverhandlung bei der aktenführenden Behörde zu beantragen. Dies sollte zweckmäßigerweise rechtzeitig vor der Hauptverhandlung geschehen. Damit ist dem Informationsinteresse des Betroffenen Genüge getan und zugleich gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Unterbrechung zur Gewährung der Einsicht unverhältnismäßig verzögert oder erschwert wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015. IV-2 RBs 63/15).

Datenschutzrechtliche Bedenken stehen dem Begehren auf Einsicht in die vollständige Messreihe nicht entgegen. Soweit mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer einhergeht, weil von diesen jeweils Foto und Kennzeichen übermittelt werden, überwiegt vorliegend das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren und auf ordnungsgemäße Überprüfung der Messung. Es ist nicht ersichtlich, welche (unzulässigen) Informationen oder Schlussfolgerungen der Verteidiger oder auch ein hinzugezogener privater Sachverständiger aus der Einsichtnahme der entsprechenden Daten ziehen sollten. Der aufgezeichnete und feststellbare Lebenssachverhalts einer derartigen Maßnahme betrifft nur einen äußerst kurzen Zeitraum. Zudem werden lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer, die sich durch die Teilnahme am Straßenverkehr im Übrigen selbst der Verkehrsüberwachung durch die Behörden aussetzen, übermittelt werden. Vor allem aber ist von einem Verteidiger als Organ der Rechtspflege schon unter standesrechtlichen Gesichtspunkten zu erwarten, dass die ihm übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden und er damit sachgemäß umgeht (vgl. LG Kaiserslautern, Beseht. v. 22.05.2019 — 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Hanau, Beseht. v. 07.01.2019 – 4b Qs 114/18, Juris, dort Tz. 20). Auch in der Person eines Sachverständigen ist ein Miss-brauch konkret nicht zu befürchten.

Aus diesen Gründen sind der Verteidigung des Betroffenen die Daten der gesamten Messserie in unverschlüsselter Form auf einem geeigneten Datenträger zu übergeben.

Da der Antrag auf gerichtliche Entscheidung aufgrund der vorherigen Weiterleitung der Akten an die Staatsanwaltschaft Leipzig kein selbstständiges gerichtliches Entscheidungsverfahren ausgelöst hat, sondern der vorliegende Beschluss vielmehr im Rahmen des Verfahrens der Entscheidung über den Einspruch ergeht, war eine gesonderte Kostenentscheidung entbehrlich.

Diese Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG unanfechtbar.

Die Verwaltungsbehörde wird zukünftig gebeten. in gleichgelagerten Fällen die betreffende Fotosequenz der Verteidigung im Hinblick auf die oben zitierte Rechtsprechung zur Verfügung zu stellen. um überflüssige und das Verfahren verzögernde .Anträge auf gerichtliche Entscheidungen zu vermeiden.

Entgegen der Rechtsauffassung der Bußgeldbehörde im Schreiben vom 24.04.2025 (BI. 85 d.A.) ist völlig unerheblich, ob dies „aus prozessökonomischen Gründen“ leistbar ist oder nicht.

Der Verteidiger hat einen Rechtsanspruch auf die Übersendung und auf ein rechts-staatliches Verfahren.“

PoliscanSpeed – OLG unterliegen einem „Zirkelschluss“

Poliscan Speed - RadarIch hatte ja in den letzten Wochen wiederholt über PoliscanSpeed-Entscheidungen berichtet (vgl. dazu unten die Zusammenstellung). In dem bereits vorgestellten Urteil des AG Friedberg vom 11.08.2014 wird auf eine Entscheidung des AG Emmendingen verwiesen, die auch an anderen Stellen bereits in der Diskussion erschienen ist. Ein Kollege hat mir das Urteil – ergangen in einem Sammelverfahren 🙂 – zukommen lassen, so dass ich es der Vollständigkeit halber auch hier vorstellen kann. Das AG Emmendingen, Urt. v. 26.02.2014 – 5 OWi 530 Js 24840/12 – ist aber nicht nur ein „Lückenfüller/Abrunder“, sondern m.E. auch noch wegen der Argumentation des AG von Bedeutung, und zwar an mindest zwei Stellen:

„Die vorstehenden Entscheidungen sind für das AG Emmendingen nicht verbindlich. Sie überzeugen auch sachlich nicht. Im Wesentlichen handelt es sich um apodiktische Feststellungen. Als Gründe werden im Wesentlichen die Charakterisierung als „standardisiertes Messverfahren“ und die Tatsache, dass andere OLGe ebenso entschieden hätten, angeführt. Letzteres ist kein Argument, sondern ein Zirkelschluss. Ersteres vermag – wie bereits oben erwähnt – eine eigenständige, „zweifelsoffene“ Prüfung nicht zu ersetzen.“…..

Und dann noch ein Punkt, der in einigen anderen Entscheidungen auch schon eine Rolle gespielt und mit der „Dickfelligkeit“ der PTB zu tun hat:

„2. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) hat für das verfahrensgegenständliche Messgerät am 23.06.2006 eine Bauartzulassung erteilt (PTB-Zul. 18.11/06.01). Damit handelt es sich jedoch nicht schon um ein über jeden Zweifel erhabenes „standardisiertes Messverfahren“. Die auch in der Fachliteratur seitens physikalisch-technischer Sachverständiger immer wieder geäußerten Zweifel (vgl. nur Schmedding/Neidel/Reuß, SVR 2012, 121 ff; Löhle, DAR 2009, 422 ff) unterliegen beim zur Entscheidung berufenen Richter folglich keinem Denkverbot. Der Versuch, die bestehenden Zweifel durch zeugenschaftliche Befragung eines sachkundigen Mitarbeiters der PTB zu entkräften, ist gescheitert. Die PTB teilte dem Gericht mit, selbst im Falle einer Benennung werde dem Zeugen keine Aussagegenehmigung erteilt. Es unterbleibe jedoch aus grundsätzlichen Erwägungen im Hinblick auf eine massive Überbelastung der Fachabteilung bereits eine entsprechende Benennung.“

Ich weiß nicht, ob die Entscheidung rechtskräftig geworden ist. Wenn nicht, wird dann sicherlich bald das OLG Karlsruhe entscheiden müssen. Vielleicht ja mal endlich ein OLG, dass den Zweifeln, die auch von sachverständiger Seite erhoben werden, folgt und den Status des „standardisierten Verfahrens“ „aberkennt“.

Zu Poliscan Speed aus den letzten Wochen dann auch noch:

„Auch du mein Sohn Brutus“ – OLG Bamberg zu PoliscanSpeed, oder: Das haben wir immer schon so gemacht

Poliscan Speed - RadarErst jetzt hat das OLG Bamberg den OLG Bamberg, Beschl. v. 26.04. 2013 – 2 Ss OWi 349/13 – veröffentlicht, so dass wir erst jetzt und nicht schon seit Frühjahr 2013 wissen: Auch das OLG Bamberg sieht das Messverfahren „PoliscanSpeed“ als standardisiertes Verfahren an. Allerdings m.E. ohne (eigene) Begründung, sondern letztlich nur aufgrund eines Hinweises auf die PTB und die anderen OLG, die es eben so machen. Also: Das haben wir immer schon so gemacht. Ausgeführt wird nur:

b) Die Geschwindigkeitsmessung mit dem Lasermessverfahren PoliScanSpeed erfüllt die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens, d.h. eines durch Normen vereinheitlichten (technischen) Verfahrens, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und seines Ablaufs so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGHSt 43, 277). Diesen Anforderungen genügt das PoliScanSpeed-Verfahren, dessen Bauart von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zur innerstaatlichen Eichung zugelassen ist und bei dem die Geschwindigkeitsmessung von besonders geschultem Personal unter Beachtung der Betriebsanleitung des Geräteherstellers sowie der Zulassungsbedingungen der PTB durchgeführt wird. Dies bietet hinreichende Gewähr für eine zuverlässige Anwendung des PoliScanSpeed-Messverfahrens (vgl. wie hier u.a. schon OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.01.2010 – 5 Ss [OWi] 206/09 [bei juris]; KG, Beschluss vom 26.02.2010 – 3 Ws [B] 94/10 = DAR 2010, 331 f. = VRS 118 [2010], 367 ff. = SVR 2010, 274 f. und OLG Frankfurt, Beschluss vom 21.04.2010 – 2 Ss OWi 236/10 [bei juris]).

M.E. schade, dass nicht mal endlich ein OLG sich mit dem Verfahren und die dagegen von Sachverständigen vorgebrachten Einwände auseinandersetzt. Genug Veröffentlichungen dazu hat es ja in der letzten Zeit gegeben.