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„Fischer-Bereinigungs-Beschluss“ (?), oder: Einsicht beim Zwang zur Herausgabe von Betäubungsmitteln als Vermögensschaden

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Die Woche eröffne ich mit einer – ich will sie mal so nennen – „Fischer-Bereinigungs-Entscheidung“ des 2. Strafsenats des BGH, und zwar mit dem BGH, Urt. v. 16.08.2017 – 2 StR 335/15. Das ist das Verfahren, in dem es den Anfragebeschluss des BGH v. 01.06.2016 gegeben hat (Schon wieder: Anfragebeschluss des 2. Ss des BGH – Nötigung zur Herausgabe von BtM) mit der Frage:

„Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln richtet sich nicht gegen das Vermögen des Genötigten und erfüllt daher nicht den Tatbestand der Erpressung.
Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob sie dem zustimmen oder an etwa entgegenstehender Rechtsprechung festhalten.“

Die Geschichte hat sich nun endgültig erledigt. Denn der 2. Strafsenat teilt jetzt mit:

I. Der Senat hat die Sache am 24. September 2015 erstmals beraten und hiernach am 9. März und 1. Juni 2016 eine Revisionshauptverhandlung durchgeführt, wobei er die Hauptverhandlung zur Durchführung eines Anfrageverfahrens gemäß § 132 Abs. 2 GVG unterbrochen hat. Er beabsichtigte – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung – zu entscheiden, die Nöti-gung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln richte sich nicht gegen das Vermögen des Genötigten und erfülle daher nicht den Tatbestand einer Er-pressung (Senat, Beschluss vom 1. Juni 2016 – 2 StR 335/15, NStZ 2016, 596 ff. mit Anm. Krell, ebenda, und Ladiges, wistra 2016, 479 ff.). Der strafba-re Besitz von Betäubungsmitteln sei kein durch Strafrecht zu schützendes Rechtsgut. Die gleichzeitige Strafdrohung wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) und gegen denjenigen, der dem Besitzer diesen unerlaubten Besitz durch Nötigung (§§ 253, 255 StGB) entziehe, stelle einen Widerspruch dar. Damit fehle es an einer Legitimation des Staates zur Bestrafung unter dem Gesichtspunkt eines Vermögensdelikts.

Der Senat hat deshalb bei den anderen Strafsenaten des Bundesge-richtshofs angefragt, ob sie ihm darin folgen.

II. Die anderen Strafsenate sind dem entgegengetreten und haben er-klärt, an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten (BGH; Beschluss vom 21. Februar 2017 – 1 ARs 16/16, NStZ-RR 2017, 112 f.; Beschluss vom 15. November 2016 – 3 ARs 16/16, NStZ-RR 2017, 244 ff.; Beschluss vom 10. November 2016 – 4 ARs 17/16, NStZ-RR 2017, 44 f.; Beschluss vom 7. Februar 2017 – 5 ARs 47/16, NStZ-RR 2017, 110).
III. Der erkennende Senat sieht von einer Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen ab und hält ebenfalls an seiner bisherigen Rechtsprechung fest (vgl. auch Senat, Urteile vom 22. September 2016 – 2 StR 27/16, BGHSt 61, 263, 264, und vom 7. Dezember 2016 – 2 StR 522/15, NStZ-RR 2017, 111 f.).“

Also: Endgültig keine Rückkehr zum „zivilistischen Denken“ im Strafrecht.

AG Neunkirchen: Herausgabe der Messdaten; oder: Warum kann es der Proberichter besser als das OLG?

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Es geht mit der Einsicht in Messdaten und/oder – unterlagen auch anders als in Bayern(vgl. dazu den AG Nördlingen, Beschl. v. 08.09.2016 – 4 OWi 99/16AG Nördlingen: Grausame Akteneinsicht, aber: Schönen Gruß vom Marketing und Nochmals: Grausame Akteneinsicht, oder: Doppelschlag aus Bamberg) und das lässt hoffen – die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Und es ist wieder 🙂 das AG Neunkirchen, das im AG Neunkirchen, Beschl. v. 05.09.2016 – 19 OWi 531/15 – erneut alles „herausrückt“, was der Verteidiger haben wollte. Und das zu Recht, denn das braucht der Verteidiger auch, um den Anforderungen des standardisierten Messverfahrens gerecht zu werden. Denn wie soll er konkret Fehler der Messung rügen, wenn er die Umstände der Messung nicht kennt? Auf die Frage ist bisher m.E. auch das OLG Bamberg eine vernünftige Antwort schuldig geblieben.

Der Leitsatz der AG Neunkirchen, Entscheidung:

„Dem Verteidiger sind bei der Geschwindigkeitsmessung die Rohmessdaten der tatgegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form, sowie die Lebensakte zum Messgerät und die Statistikdatei der Messserie des Messtages herauszugeben.“

Und die Begründung des AG in Stichpunkten:

  • Wird dem Betroffenen aber die Herausgabe der Rohmessdaten in unverschlüsselter Form versagt, wird ihm die Möglichkeit verwehrt, aktiv die Daten auf Fehler untersuchen zu lassen, die der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit zugrunde liegen.
  • Da es dem Betroffenen aufgrund des standardisierten Messverfahrens obliegt, konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vorzutragen, damit überhaupt eine Beweiserhebung über die Korrektheit der Messung durch das Gericht in Betracht kommt, sind dem Betroffenen die Rohmessdaten in unverschlüsselter Form zur Verfügung zu stellen, damit der Betroffene etwaige Messfehler konkretisieren kann.
  • Die Rohmessdaten sind der Verteidigung in unverschlüsselter Form herauszugeben.
  • Die Verwaltungsbehörde kann sich nicht darauf zurückziehen, dass die Daten durch den Hersteller verschlüsselt werden und derzeit lediglich dieser zur Entschlüsselung in der Lage ist. Verfügungsberechtigt über die Messdaten ist allein die Behörde, die diese Daten erzeugt und abgespeichert hat. Es ist daher Sache der Verwaltungsbehörde die Rohdaten in unverschlüsselter Form zu beschaffen und dem Betroffenen auf sein Verlangen hin zur Verfügung zu stellen.
  • Der Betroffene kann nicht darauf verwiesen werden, die unverschlüsselten Rohdaten unmittelbar bei der Fa ESO GmbH anzufordern, denn diese wäre zu einer Herausgabe an den Betroffenen gar nicht berechtigt, da sie keine Befugnis hat, über diese Daten zu verfügen.
  • Sofern die Verwaltungsbehörde nicht in der Lage ist, die Daten selbst zu entschlüsseln, hat sie die unverschlüsselten Daten bei der Firma ESO anzufordern. Aus den genannten Gründen hat die Firma ESO die Daten dann unverschlüsselt herauszugeben, da sie — wie dargelegt — zur Verschlüsselung überhaupt nicht berechtigt ist.
  • Ebenso sind der Verteidigung die Lebensakte des Messgeräts sowie die Statistikdatei des Messtages herauszugeben. Denn auch aus diesen Unterlagen können sich mögliche Messfehler oder Anhaltspunkte auf eine nicht ordnungsgemäße Messung ergeben.

Ist übrigens ein „Proberichter“, der da beim AG Neunkirchen „segensreich“ tätig ist. Warum der es besser kann als teilweise die OLG Rechtsprechung, angeführt vom OLG Bamberg, …. mir erschließt es sich nicht.

Der Beschluss passt übrigens zum AG Neunkirchen, Urt. v. 27.04.2016 – 19 OWi 68 Js 778/15 (234/15)  und dazu: Messauswertung durch Private, oder: Beweisverwertungsverbot (im Saarland?). 🙂

Rohmessdaten a la AG Hildesheim, oder: Aus einem Saulus wird ein Paulus

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In der Vergangenheit habe ich ja immer unter dem Titel: „Akteneinsicht a la….“ über amtsgerichtliche Entscheidungen betreffend Akteneinsicht im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren berichtet. Das ist dann inzwischen doch eine verhältnismäßig große Zahl Entscheidungen geworden, die vorgestellt habe. Meist ging es um die Bedienungsanleitung und/oder andere Messunterlagen. Seit einiger Zeit spielen die Fragen aber nicht mehr eine so große Rolle.  Jetzt geht es mehr um die (unverschlüsselten) Rohmessdaten, die Verteidiger sehen möchten und die Verwaltungsbehörden mit unterschiedlichen Begründungen nicht herausrücken wollen. Auch zu der Frage gibt es schon eine ganze Reihe von Entscheidungen, wie z.B. der AG Trier, Beschl. v. 09.09.2015 – 35 OWi 640/15 und dazu: Akteneinsicht a la AG Trier: Da gibt es die Token-Datei und das Passwort zur Messreihe, der AG Bergisch-Gladbach, Beschl. v. 02.10.2015 – 48 OWi 35/1 5 [b], und dazu: Akteneinsicht a la Bergisch-Gladbach: Auch da gibt es die unverschlüsselten Rohmessdaten, der OLG Oldenburg, Beschl. v. 06.05.2015 – 2 Ss (OWi) 65/15, und dazu „Messdatei bei PoliscanSpeed nicht bekommen“ – Verletzung des rechtlichen Gehörs, der im AG Weißenfels, Beschl. v. 03.09.2015 – 10 AR 1/15 und dazu Akteneinsicht a la AG Weißenfels: Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten, oder: Anders würde ich auch nicht entscheiden……. 

Heute will ich mit dem AG Hildesheim, Beschl. v. 20.11.2015 – 112 OWi 35 Js 26360/15 – fortsetzen. Und da es wieder um die Rohmessdaten geht, ändere ich den Titel der Serie in „Rohmessdaten a la ….“.

Erhalten habe ich den Beschluss von der VUT aus Püttlingen, die über ihn heute auch in ihrem Newsletter berichten. Und die VUT hatte ihn vom Kollegen Koch aus Stadtallendorf.  Besten Dank für diese (schöne) Entscheidung. Schön deshalb, weil der Amtsrichter – auf der Grundlage der wohl h.M. in der Rechtsprechung – das Verfahren gegen den Betroffenen nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt hat. Er geht davon aus, dass es sich bei einer Messung mit ESO ES 3.0 zwar noch um ein standardisiertes Messverfahren handelt, der Betroffene dieses aber überpüfen können muss:

„Diese Vorgehensweise hält rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht stand. Im Ergebnis werden pauschale Behauptungen und Einwendungen der Betroffenen mit dem Hinweis auf ein standardisiertes Messverfahren zurückgewiesen, die von den Betroffenen geforderten konkreten Einwendungen können diese aber rein faktisch nicht vorbringen, weil ihnen nunmehr jegliche Prüfungsmöglichkeit verwehrt ist. Mit anderen Worten, zwar steht ihnen mit dem Einspruch theoretisch ein Rechtsmittel gegen eine Messung durch ES 3.0 zur Verfügung, rein praktisch haben sie aber keine Verteidigungsmöglichkeit gegen die Richtigkeit der Messung…..“

Deshalb sieht er – jetzt – unter Hinweis einen Anspruch des Betroffenen auf Überlassung der unverschlüsselten Daten.

„Das Amtsgericht folgt nunmehr dieser überzeugenden Ansicht. Wie ausgeführt haben Betroffene ohne die Herausgabe unverschlüsselter Rohmessdaten keine reelle Möglichkeit, gegen die Messung vorzugehen. Der Einspruch wird zu einer reinen Formalie und die Begründungspflicht für den Betroffenen wird zu einer unüberwindbaren Hürde.

Ein neuerlicher Beschluss nach § 62 OWiG ist dem Gericht verwehrt, da das Verfahren bereits abgegeben ist. Das Gericht hätte daher im vorliegenden Fall das Verfahren gemäß § 69 V OWiG an die Verwaltungsbehörde zurück verweisen können. Da jedoch der Betroffene vorliegend nicht weiter vorbelastet ist und lediglich eine Geldbuße von 80,00 Euro Gegenstand des Verfahrens ist, hat das Gericht zur Vermeidung des sich ergebenden Aufwandes (Zurückverweisung, Übermittlung der Daten, Prüfung durch Sachverständige, neue Verhandlung) eine Einstellung vorgenommen. Das Gericht behält sich vor, künftig in ähnlich gelagerten Fällen eine entsprechende Zurückverweisung vorzunehmen.“

Der Beschluss ist vor allem aber auch aus folgendem Grund „bemerkenswert“. Der Amtsrichter hatte in dem Verfahren in einem Beschluss vom 23.07.2015 einen Antrag des Verteidigers auf Offenlegung der Rohmessdaten der einzelnen Messungen und der Messserie, zurückgewiesen. An der Rechtsauffassung hält er jetzt nicht mehr fest. Das ist dei Wandlung vom Saulus zum Paulus. Findet man leider nur selten.

Mandat beendet? Dann gehören die Handakten dem Mandanten – jetzt auch in Hamm

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Im vergangenen Jahre habe ich – ebenso wie einige andere Blogs – über das BGH, Urt. v. 03.11.2014 – AnwSt (R) 5/14 – berichtet (vgl. hier: Mandat beendet? Dann gehören die Handakten i.d.R. dem Mandanten). Ergangen war es in einem berufsrechtlichen Verfahren gegen einen Kollegen, der ein Ehepaar aus Neuss in drei gerichtlichen Verfahren vertreten hatte. Nach einem Wechsel des Kollegen in eine andere Kanzlei zahlten die Mandanten die dem Kollegen zustehenden Gebühren und Auslagen. Außerdem beauftragten sie einen anderen Rechtsanwalt mit der weiteren Verfolgung ihrer Rechtsangelegenheiten. Dieser forderte den Kollegen vergeblich auf, ihm die Mandanten-Handakten zur Weiterführung des Mandats herauszugeben. Darüber ist es dann zu einem berufsrechtlichen Verfahren gekommen, in dem der AnwGH NRW den Kollegen frei gesprochen hatte. Er hatte eine berufsrechtliche Pflicht zur Herausgabe verneint. Der BGH hatte das dann anders gesehen und aufgehoben und zurückverwiesen.

Nun hat der AnwGH NRW „nachgebessert“ und im AnwGH NRW, Urt. v. 29.05.2015 – 1 AGH 1/15 – ebenfalls eine Berufspflicht zur Herausgabe der Akten nach Beendigung des Mandats, wenn die Gebühren gezahlt sind, bejaht (was soll er auch anderes tun 🙂 ?):

2. a.) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es besteht nicht nur eine zivilrechtliche, sondern (auch) eine berufsrechtliche Pflicht zur Herausgabe der Handakten. Die Herausgabepflicht ist zwar nicht ausdrücklich in § 50 BRAO geregelt. Sie ist aber aus der Generalklausel des § 43 BRAO i. V. m. §§ 675, 667 BGB und inzident auch der Vorschrift des § 50 BRAO zu entnehmen. Der Senat, ohnehin gem. § 358 Abs.1 StPO an die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs gebunden, ist der Ansicht, dass die anlasslose Zurückbehaltung der Handakten ein gravierendes Fehlverhalten darstellt. Denn der Mandant übergibt dem Rechtsanwalt seine Unterlagen zur Besorgung des Auftrages in dem Vertrauen, dass dieser – sein Rechtsanwalt – sich für ihn einsetzt und sich zumindest rechtmäßig verhält. Kommt es, aus welchen Gründen auch immer, zu einer Beendigung des Mandats und der Mandant verfolgt seine Rechtsangelegenheiten auf anderem Wege, etwa mit Hilfe eines anderen Rechtsanwalts weiter, kann er mit Fug und Recht erwarten, dass er seine dem früheren Bevollmächtigten ausgehändigten Originalunterlagen zurückerhält. Ist der Rechtsanwalt hinsichtlich seiner Gebühren und Auslagen befriedigt, ist keinerlei Grund erkennbar, der ein solches Verhalten (Zurückhaltung der Handakten) rechtfertigen könnte. Mit einer gewissenhaften Berufsausübung ist das keinesfalls vereinbar, es widerspricht vielmehr in hohem Maße dem Vertrauen, dass der frühere Mandant in den Rechtsanwalt gesetzt hatte.

Akteneinsicht a la AG Weißenfels: Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten, oder: Anders würde ich auch nicht entscheiden…..

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Länger hat es keine Entscheidungen zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gegeben. An der „Front“ ist es verhältnismäßig ruhig. Aber: Das scheint nur so. Denn inzwischen gibt es in meinen Augen eine zweite „Frontlinie“, die man als Verteidiger im Auge behalten sollte. Nämlich die Frage nach der Herausgabe der sog. Rohmessdaten in unverschlüsselter Form. Die wird von den Verwaltungsbehörden häufig immer noch verweigert. So auch von einer Verwaltungsbehörde in Sachsen-Anhalt in einem Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Verteidiger hat gegen die Ablehnung dann einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) gestellt und hatte damit beim AG Weißenfels Erfolg. Dieses hat im AG Weißenfels, Beschl. v. 03.09.2015 – 10 AR 1/15 – die Verwaltungsbehörde angewiesen, die Rohmessdaten herauszugeben:

Aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der Gewährung rechtlichen Gehörs folgt, dass dem Betroffenen auf dessen Antrag hin die sog. Rohmessdaten in unverschlüsselter Form zur Verfügung zu stellen sind.

Bei dem hier angewandten Messverfahren unter Verwendung des Messgeräts ES 3.0 der Fa. ESO GmbH handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren (so etwa OLG Hamm, Beschl. v. 29. Jan. 2013 – 1 RBs 2/13 –; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19. Okt. 2012 – 1 Ss Bs 12/12 –, jew. zit. n. juris). Liegt ein standardisiertes Messverfahren dem Bußgeldbescheid zu Grunde, so obliegt es dem Betroffenen, konkrete und einer Beweiserhebung zugängliche Umstände zu einem Messfehler vorzutragen. Hierzu bedarf es zunächst neben dem Einsichtsrecht in das Messprotokoll und den Eichschein des Messgeräts auch der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung sowie in die erforderlichen Fotos, beim Gerät ES 3.0 also das Messfoto und das sog. Fotolinienbild. Darüber hinaus muss dem Betroffenen auf sein Verlangen hin aber auch die bei der Messung erstellte Messdatei zugänglich gemacht werden, um ihm – unter Hinzuziehung eines privaten Sachverständigen – die Möglichkeit zu geben, eventuelle Messfehler zu entdecken und im Verfahren substantiiert behaupten zu können.

Würde man – wie hier die Verwaltungsbehörde – dem Betroffenen dieses Einsichtsrecht unter Hinweis darauf versagen, dass die Daten vom Gerätehersteller verschlüsselt werden und nur durch diesen in unverschlüsselter Form zur Verfügung gestellt werden können, würde der Betroffene in seinen Verfahrensrechten unzulässig eingeschränkt.

Ein zentrales Anliegen eines rechtsstaatlich geordneten Bußgeldverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils. Ausgestaltungen des Verfahrens, welche die Ermittlung der Wahrheit zu Lasten des Betroffenen behindern, können daher seinen Anspruch auf ein faires Verfahren verletzen. Ferner sichert dieser Anspruch dem Betroffenen, der nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, den erforderlichen Bestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen, damit er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen kann (so für das Strafverfahren: BVerfGE 46, 202, 210; 63, 45, 61). Hiergegen würde aber verstoßen, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit versagt würde, gerade die Daten, auf denen der Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit beruht, nicht prüfen (lassen) zu können.

Der Betroffene kann diesbezüglich auch nicht auf die Möglichkeit des Einspruchs und das anschließende gerichtliche Verfahren verwiesen werden. Wie bereits vorstehend ausgeführt kommt eine Beweiserhebung regelmäßig nur in Betracht, wenn der Betroffene konkrete Umstände zu einem Messfehler vorträgt. Kennt er die Rohdaten nicht bzw. kann diese nicht unverschlüsselt auslesen, so wird ihm diese Möglichkeit zumindest teilweise genommen. Ein Beweisantrag des Betroffenen wäre dann durch das Gericht als „ins Blaue hinein gestellt“ möglicherweise abzulehnen.

Die Verwaltungsbehörde kann sich auch nicht darauf zurückziehen, dass die Daten durch den Hersteller verschlüsselt werden und derzeit lediglich dieser zur Entschlüsselung in der Lage ist. Wie durch das Urteil des OLG Naumburg vom 27. Aug. 2014 (OLG Naumburg, DAR 2015, 27 – 29) eindeutig festgestellt wurde, steht die Befugnis, über die Messdaten zu verfügen, der Behörde zu, die diese Daten erzeugt und abgespeichert hat. Es ist insoweit Sache der Verwaltungsbehörde, die Rohdaten in unverschlüsselter Form zu beschaffen und dem Betroffenen auf sein Verlangen hin zur Verfügung zu stellen. Genauso wenig kann der Betroffene darauf verwiesen werden, die unverschlüsselten Rohdaten unmittelbar bei der Fa ESO GmbH abzufordern, denn diese wäre zu einer Herausgabe an den Betroffenen gar nicht berechtigt, da sie keine Befugnis hat, über diese Daten zu verfügen (OLG Naumburg, a.a.O.).

Sieht sich die Verwaltungsbehörde auf das Verlangen des Betroffenen hin zu einer Überlassung der unverschlüsselten Rohdaten nicht in der Lage, so wird das Gericht bei Vorlage der Akten gegebenenfalls von der Möglichkeit des § 69 Abs. 5 OWiG Gebrauch zu machen haben.

Schöner Beschluss, der auf der Linie der Rechtsprechung zur dieser Frage liegt (vgl. das LG Halle, Urt. v. 05.12.2013 – 5 O 110/13 und dazu: ESO erleidet Schiffbruch beim LG Halle – Rohdatenauslesung zulässig – Instanzentscheidung zu der o.a. Entscheidung des OLG Naumburg und bereits auch AG Kassel, Beschl. v. 27.02.2015 – 381 OWi – 9673 Js 32833/14). Schön auch der Hinweis des AG auf den § 69 Abs. 5 OWiG, von dem viel zu wenig Gebrauch gemacht wird. Also nicht durchwinken, sondern ermitteln.

Ist also wieder Bewegung im Spiel. Und nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch an anderen Orten. Denn der amtsrichterliche Kollege, der mir die Entscheidung geschickt hat, hatte als „Betreff“ gewählt: Anders würde ich auch nicht entscheiden. Recht so 🙂 .