Und dann noch die dritte StGB-Entscheidung. Das ist der LG Stuttgart, Beschl. v. 13.02.2023 – 5 Qs 8/23.
Es geht um die Frage der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Bildaufnahmen gem. § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB, und zwar betreffend folgenden Sachverhalt: Nach den polizeilichen Ermittlungen hatte sich der Angeschuldigte unberechtigt in die Damentoilette eines Einkaufszentrum begeben und dort die 15jährige Geschädigte unbefugt mit seinem Handy fotografiert, nachdem diese nach dem Toilettengang im Vorraum der Damentoilette gerade die Hände gewaschen hatte.
Die Staatsanwaltschaft hat wegen dieses Vorfalls den Erlass eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten beantragt. Das AG hat das wegen mangelnde Tatverdachts (aus rechtlichen Gründen) abgelehnt. Dagegn hat die Staatsanwaltschaft dann sofortige Beschwerde eingelegt, die beim LG keinen Erfolg hatte:
„Die zur Last gelegte Tat ist jedoch nicht strafbar gemäß § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dabei kann offenbleiben, ob der Vorraum einer Damentoilette ein gegen Einblick besonders geschützter Raum im Sinne der Norm ist oder ob von der Norm nur Räumlichkeiten erfasst werden, die von vornherein dazu bestimmt sind, einen Menschen vor den Blicken eines jeden anderen und damit auch vor Bildaufnahmen zu schützen (in diesem Sinne OLG Koblenz, Beschluss vom 11.11.2008, 1 Ws 535/08, NStZ 2009, 268, 269). Es fehlt vorliegend jedenfalls an der Strafbarkeitsvoraussetzung der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der Geschädigten des Erfolgsdelikts des § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 15/2466, S. 5) kann sich der Begriff des höchstpersönlichen Lebensbereichs inhaltlich an dem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwendeten und in der zivilrechtlichen Rechtsprechung näher ausgeformten Begriff der Intimsphäre orientieren. Die Intimsphäre stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei den engsten Persönlichkeitsbereich dar. Sie beschreibt den Kernbereich der höchstpersönlichen Lebensgestaltung und umfasst den letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit (vgl. BVerfGE 32, 373, Rn. 22f. in juris). Nach der Gesetzesbegründung (a.a.O.) sind der Intimsphäre vor allem die Bereiche Krankheit, Tod und Sexualität zuzuordnen. Die Intimsphäre umfasst aber grundsätzlich auch die innere Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren äußeren Erscheinungsformen wie vertraulichen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen sowie die Angelegenheiten, für die ihrer Natur nach Anspruch auf Geheimhaltung besteht, beispielsweise Gesundheitszustand, Einzelheiten über das Sexualleben sowie Nacktaufnahmen.
Gemessen hieran ist die Fotografie einer vollständigen bekleideten Person – ohne das Hinzutreten weiterer, hier nicht gegebener Umstände – nicht als Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der abgebildeten Person anzusehen (vgl. OLG Koblenz, a.a.O., Rn. 8 in juris). Dafür spricht, wenngleich nicht zwingend, auch die Gesetzesbegründung (a.a.O.), die das Beispiel „Benutzung von Toiletten“ in den Zusammenhang mit den dort aufgeführten weiteren Beispielen gynäkologischer Untersuchungen sowie Umkleidekabinen stellt; diese Beispiele lassen erkennen, dass es dem Gesetzgeber in erster Linie um den Schutz einer zumindest teilweise entkleideten Person geht. Der Schutz vor Nacktaufnahmen bildet damit korrespondierend auch einen zentralen Aspekt des Schutzes der Intimsphäre in der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 22.01.1985, VI ZR 28/83, NJW 1985, 1617; vgl. auch die Gesetzesbegründung a.a.O.). Die Geschädigte war demgegenüber zur Tatzeit vollständig einschließlich geschlossenem Anorak bekleidet und trug zudem eine Mund-Nasen-Bedeckung.
Die – nach dem Wortlaut der Gesetzesbegründung mögliche – Argumentation der Staatsanwaltschaft Stuttgart, wonach die in der Gesetzesbegründung als Beispiel genannte „Benutzung von Toiletten“ auch den Vorraum der Toilette und Bildaufnahmen einer vollständig bekleideten Person insgesamt erfasse, und nicht auf die Benutzung der Toilettenkabine beschränkt sei, überdehnt demgegenüber den Begriff der Intimsphäre. Bei dem von der Staatsanwaltschaft angeführten Waschen, Kämmen und Schminken im Toilettenvorraum handelt es sich nicht um Tätigkeiten des vollständig unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Betroffen ist insoweit vielmehr das in Abgrenzung zur Intimsphäre bestehende Recht auf Achtung der Privatsphäre, das jedermann einen autonomen Bereich der eigenen Lebensgestaltung zugesteht, in dem er seine Individualität unter Ausschluss anderer entwickeln und wahrnehmen kann. Dazu gehört in diesem Bereich auch das Recht, für sich zu sein, sich selber zu gehören und den Einblick durch andere auszuschließen (Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.09.2012, VI ZR 291/10, NJW 2012, 3645, Rn. 12 in juris). Eine Verletzung der Privatsphäre ist zwar rechtswidrig und zivilrechtlich verfolgbar; sie erfüllt aber nicht den Tatbestand des § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Die zur Last gelegte Tat ist auch nicht nach § 33 KunstUrhG strafbar, weil ein zur Verwirklichung des Tatbestandes erforderliches „Verbreiten“ oder „öffentlich zur Schau stellen“ der Bildaufnahme der Geschädigten durch den Angeschuldigten nicht stattgefunden hat.
Eine Strafverfolgung wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 123 StGB kommt schon mangels zwingend erforderlichen Strafantrags nicht in Betracht.“