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Punktegrenze voll => Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Maßgeblicher Kenntnisstand der Behörde

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Heute im „Kessel Buntes“ mal wieder Verkehrsverwaltungsrecht.

Die erste Entscheidung kommt vom OVG Münster. Das hat im OVG MÜnster, Beschl. v. 28.10.2021 – 16 B 1115/21 – in Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichen der Punktegrenze zum maßgebliche Kenntnisstand der Behörde im Fahreignungs- und Bewertungssystem Stellung genommen.

Dem Antragsteller wird mit der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 26.01.2021 die  Fahrerlaubnis entzogen. Grundlage sind/waren die Eintragungen im FAER. Dabei führte eine vom Antragsteller am 30.05.2019 vom Antragsteller begangene, mit seit 14.09.2019 rechtskräftigem Bußgeldbescheid geahndete Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h, die (erst) am 20.11.2020 im FAER gespeichert und vom Kraftfahrt-Bundesamt dem Antragsgegner mit Schreiben vom 27.11.2020 mitgeteilt wurde, im Fahreignungs-Bewertungssystem ausweislich der in der Anlage zur Ordnungsverfügung tabellarisch aufgelisteten Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamts zu einem Punktestand des Antragstellers von acht Punkten. Gestritten wird um die „Verwertbarkeit“.

Dazu das OVG:

„Der Punkt für diese am 30. Mai 2019 begangene Zuwiderhandlung, die vor der mit der am 17. November 2020 ausgestellten Verwarnung eingetretenen Punktereduzierung (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG) erfolgte, erhöhte gemäß § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG den Punktestand von sieben auf acht, weil der nach Landesrecht zuständige Antragsgegner hiervon erst mit Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 27. November 2020 Kenntnis erlangte.

Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift ermöglicht die Berücksichtigung von im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten für einen Verkehrsverstoß auch dann, wenn dieser vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei der Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie – wie vorliegend – erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist. Zudem stellt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab. Nach dieser Bestimmung erhöhen Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 24; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2017 – 16 A 980/16 -, juris, Rn. 38, 41 f.; BT-Drs. 18/2775, S. 10; Dauer, in: Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 88a f.

Dass diese Kenntnisnahme (und die diese bewirkende Mittteilung des Kraftfahrt-Bundesamts) hier erst mehr als ein Jahr nach der am 14. September 2019 eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids und damit nach Entstehen des Punktes für den zugrunde liegenden Verkehrsverstoß (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG) erfolgte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere musste sich entgegen der Auffassung des Antragstellers die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners nicht die – zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwarnung vom 17. November 2020 gegebene – Kenntnis anderer, der Punkteeintragung „vorgelagerter“ Stellen, hier also der Bußgeldbehörde, zurechnen lassen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss die Fahrerlaubnisbehörde sich weder das Wissen, über das eine im Maßnahmensystem „vorgelagerte“ Stelle hinsichtlich weiterer Verkehrsverstöße des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers verfügt, noch ein Verschulden dieser Stellen bei der Datenübermittlung zurechnen lassen. Eine Zurechnung von Wissen oder von Verschulden bei der Datenübermittlung liefe der Konzeption des Gesetzgebers zuwider, nach der gerade auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abgestellt werden soll. Abgesehen davon fehlt es an der erforderlichen Rechtsgrundlage für eine solche Zurechnung. Der Vollzug des Maßnahmensystems ist, wie § 4 Abs. 8 und § 28 Abs. 4 StVG sowie die Gesetzesbegründung zeigen, auf die Übermittlung der entsprechenden Daten und auf deren Kenntnisnahme beim Empfänger angelegt. Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG), kann nichts anderes gelten. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 25 f.

Dass das Bundesverwaltungsgericht in Rn. 26 dieses Urteils unter Bezugnahme auf den – auch vom Antragsteller zitierten – Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. April 2016 – 11 CS 16.537 – (in dem u. a. der Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – erwähnt ist) offen gelassen hat, ob etwas anderes gilt, wenn ein „Berufen“ der Fahrerlaubnisbehörde auf die Unkenntnis als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre, führt nicht zum Erfolg der Beschwerde.

Denn in dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch ersichtlich sind und dass nicht zu erkennen ist, dass die Verzögerung der Mitteilung nicht nur auf einem bloßen Versehen beruht.
Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 26.

Allein der Zeitablauf von ca. 14 Monaten zwischen der am 14. September 2019 eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids und der Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde am 27. November 2020 begründet keinen Anhalt für einen (ggf. relevanten) Rechtsmissbrauch oder für den vom Antragsteller geltend gemachten Verstoß gegen das Willkürverbot.

Eine Übertragung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG kommt insoweit nicht in Betracht. Unabhängig davon, dass der Gesetzgeber diese Frist des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts im speziellen, das Fahreignungsregister betreffenden (Verfahrens-)Recht des § 4 StVG nicht entsprechend verankert hat,
vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2020 – 16 B 854/20 -, juris, Rn. 30,

handelt es sich bei der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG um eine Entscheidungsfrist, die erst mit der Kenntnis aller relevanten Tatsachen beginnt.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers genügt es für die Annahme von Rechtsmissbrauch bzw. des geltend gemachten Verstoßes gegen das Willkürverbot nicht, dass die Gründe für einen längeren Zeitablauf zwischen der rechtskräftigen Ahndung eines Verkehrsverstoßes und der diesbezüglichen Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde nicht erkennbar sind. Dem Urteil des Bundesverwaltungs-gerichts vom 26. Januar 2017, das nach dem Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 -, auf den der Antragsteller verweist, erging und dem der beschließende Senat folgt, lässt sich nicht entnehmen, dass für die Annahme eines

– im Rahmen des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG etwaig relevanten – Rechtsmissbrauchs allein die Verzögerung an sich ausreichend ist, auch wenn deren Grund nicht abschließend geklärt ist.
vgl. die Bezugnahme in BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 26 a. E., auf Bay. VGH, Beschluss vom 28. April 2016 – 11 CS 16.537 -, juris, Rn. 13, wonach dies erfordert, dass die Verzögerung nicht nur auf einem Versehen beruht, sondern willkürlich, insbesondere mit dem Ziel, eine Punktereduzierung zu verhindern, hervorgerufen wurde.

Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 27. April 2015 – 16 B 226/15 – noch ausgeführt hat, „Allerdings muss die Kenntnisnahme der Fahrerlaubnisbehörde von Punkten für Zuwiderhandlungen, auf die § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n.F. abhebt, den oben bezeichneten Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Willkürfreiheit genügen“, und im folgenden Satz zur Konkretisierung u. a. allein auf den Zeitablauf zwischen der Entstehung eines Punktes und der Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde abgestellt hat („Damit wäre es etwa nicht zu vereinbaren, wenn der zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegende rechtskräftig geahndete Verstoß schon länger zurückliegt …“, juris, Rn. 13), worauf der Antragsteller in der Beschwerdebegründung ebenfalls hinweist, hält der Senat an dieser Auffassung nicht mehr fest.

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