Und die dritte Entscheidung des heutigen Tages kommt vom BGH aus Leipzig :-). Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 13.09.2018 – 5 StR 421/18 – betreffend eine Notwehrproblematik.
Das LG hat den Angeklagten wegen Totschlags verurteilt, und zwar aufgrund folgenden Geschehens: Der Angeklagte und der mit ihm befreundete M. hatten
den Abend des 11.08.2017 gemeinsam verbracht. Als sie gegen 4.00 Uhr des Folgetages eine Kneipe verlassen hatten, gerieten sie aus ungeklärter Ursache in einen Streit, in dessen Verlauf der Angeklagte seinen Freund mehrfach kräftig gegen ein BVG-Wartehäuschen drückte, jedoch von ihm abließ, als andere Gäste des Lokals sie auf die Auseinandersetzung ansprachen.
Kurz darauf hielt M. in Höhe eines nahegelegenen U-Bahnhofs unversehens ein Messer mit ausklappbarer, ca. 8,3 cm langer und 1,8 cm breiter Klinge in der Hand. Auf die Frage des Angeklagten, ob er es „gegen ihn ziehen“ würde, entgegnete er, er würde auch die Schwester des Angeklagten „ficken“, und schlug ihm gegen die Schulter, woraufhin der Angeklagte ihm einen Kopfstoß gab. Anschließend versetzten sich beide gegenseitig Schläge und Tritte, gingen hierbei zu Boden und rangen miteinander, unterbrachen aber den Kampf, als eine passierende U-Bahnfahrerin sie hierzu aufgefordert hatte. Nur Sekunden später ging M. jedoch wieder auf den Angeklagten los. Beide gerieten nach wechselseitigen Schlägen und Tritten erneut auf den Boden. Nachdem es dem Angeklagten gelungen war, als erster aufzustehen, schlug er seinen Freund noch einmal mit der Faust und warnte ihn, ihm zu folgen.
Er nahm das auf der Erde liegende Messer an sich, damit es M. nicht mehr ergreifen konnte, und entfernte sich in Richtung seiner Wohnung. Der Verlust seines Messers verstärkte die Erregung bei M. . Er folgte daher dem Angeklagten, packte ihn am rechten Arm und hielt ihn zurück. Seinen kurz zuvor aus der Hose gezogenen Gürtel nahm er dabei drohend in die Hand, weil er sein Messer wiederzuerlangen suchte. Als der Angeklagte gleichwohl weitergehen wollte, beleidigte M. ihn, stellte sich ihm in den Weg und schlug ihn mindestens zweimal mit der Gürtelschnalle. Er setzte seine Angriffe auch dann noch fort, als der wütende und zugleich verängstigte Angeklagte ihn aufgefordert hatte, damit aufzuhören.
Um sich zu verteidigen, stach der den Tod M. s billigend in Kauf nehmende Angeklagte diesem gegen 4.15 Uhr mit dessen Messer dreimal – davon zweimal wuchtig – in die Brust. Hierdurch wurden beide Herzbeutelseiten, die rechte Herzkammer, der linke Lungenoberlappen und der linke Brustbeutel verletzt. Nachdem der Getroffene schreiend zu Boden gegangen war, versuchte der Angeklagte sofort, ihm zu helfen. Obwohl herbeigerufene Rettungskräfte M. schnell ins Krankenhaus verbracht hatten, starb dieser um 5.18 Uhr infolge Verblutens.“
Das LG ist bei seiner rechtlichen Würdigung zwar davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte zum Tatzeitpunkt gegenwärtiger rechtswidriger Angriffe M. s ausgesetzt sah. Es hat die Stiche des Angeklagten aber deshalb als nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt angesehen, weil diese zur Verteidigung nicht erforderlich gewesen seien. Vielmehr hätten sie zuvor angekündigt und allenfalls „in den Arm oder (eine) andere weniger letale Körperregion“ geführt werden müssen.
Der BGH sieht das zunächst mal anders. Das LG habe hinsichtlich der Erforderlichkeit einen zu strengen Maßstab angelegt:
a) Ob eine Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene nach gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Dies schließt auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein. Doch ist der Angegriffene nicht gehalten, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen (BGH, Beschluss vom 16. April 1998 – 4 StR 114/98, NStZ 1998, 508 mwN).
b) Hieran gemessen durfte der Angeklagte das Messer zu seiner Verteidigung zumindest einmal in der festgestellten Weise einsetzen. Nachdem er die vorherigen Auseinandersetzungen durch sein Weggehen beendet hatte, war insofern die neue „Kampfeslage“ maßgeblich. Diese war insbesondere durch erstmals unter Einsatz eines Schlagwerkzeugs erfolgende Attacken M. s bestimmt, die zudem ungeachtet dessen fortgeführt wurden, dass der Angeklagte bereits unmittelbar zuvor dazu aufgefordert hatte, sie zu beenden.
Allerdings ist der Einsatz eines Messers in der Regel zunächst anzudrohen, wenn es sich um einen unbewaffneten Angreifer handelt und das Messer bis dahin noch nicht in Erscheinung getreten ist (vgl. BGH, Urteile vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140, und vom 1. Juli 2014 – 5 StR 134/14, NStZ 2015, 151, 152; jeweils mwN). Beide Voraussetzungen lagen indes nicht vor: M. schlug den Angeklagten mit einer Gürtelschnalle und setzte damit ein gefährliches Werkzeug (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ein. Auch war es gerade sein eigenes Messer, das er vom Angeklagten wiedererlangen wollte.
Soweit das Landgericht im Übrigen meint, dem Angeklagten wäre es zuzumuten gewesen, den Stich in eine für das Leben M. s weniger bedrohliche Körperregion zu führen, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass ein derartiger Messereinsatz weitere Angriffe tatsächlich unterbunden hätte. Angesichts des ausgesprochen aggressiven Verhaltens M. s, der den Angeklagten verfolgt, festgehalten, beleidigt und in erheblicher Weise zu schlagen begonnen hatte, verstand es sich nicht von selbst, dass er sich durch einen Stich etwa in den Arm von weiteren Attacken hätte abbringen lassen. Dies hätte daher näherer Erörterung bedurft (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2001 – 4 StR 256/01; Urteil vom 27. September 2012 aaO).
c) Der zumindest den ersten vom Angeklagten versetzten Stich betreffende Rechtsfehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 349 Abs. 4 StPO). Jedoch können die hiervon unberührten Feststellungen zu I. und II. a) bis c) und f) bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).“
Aber:
„4. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts sowie auf Folgendes hin:
Sollte M. nicht schon infolge des ersten Stichs handlungsunfähig geworden sein, wird es der Prüfung bedürfen, ob erst der zweite oder gar dritte Stich dem Angeklagten die Gewähr geboten haben könnte, einen weiteren Angriff zu unterbinden.
Für den Fall, dass im Hinblick auf die „Kampfeslage“ nicht alle drei Stiche als im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich anzusehen sein sollten, wird zu erörtern sein, ob durch den dann nicht gerechtfertigten Einsatz des Messers der durch Verbluten verursachte Tod M. s beschleunigt worden ist. Denn auch eine Lebensverkürzung um wenige Minuten stellt eine vollendete Tötung dar (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 1966 – 2 StR 36/66, BGHSt 21, 59, 61).“