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Ausschluss der Öffentlichkeit, oder: „Vermintes Terrain“

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Der Ausschluss der Öffentlichkeit im Strafverfahren – geregelt in den §§ 171a ff. GVG – ist ein für die Gerichte „vermintes Terrain“, sprich: Da können viele Fehler gemacht werden und werden – wie die Rechtsprechung der Obergerichte zeigt – auch immer wieder gemacht. Ein Beispiel dafür ist der BGH, Beschl. v. 31.05.2017 – 2 StR 428/16, der in einem Verfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. ergangen ist. Der Angeklagte hat gegen ein landgerichtliches Urteil, das ihn wegen „sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 108 Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 346 Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt hat, Revision eingelegt und die Verletzung des § 338 Nr. 6 StPO gerügt. Mit Erfolg.

Dem lag folgendes Verfahrensgeschehen zugunde:

„Das Landgericht hat im Hauptverhandlungstermin vom 7. April 2016 beschlossen, während der Erstattung des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen und seiner Erörterung gemäß § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG die Öffentlichkeit auszuschließen. Nach Verkündung des Beschlusses hat die Kammer den Sachverständigen belehrt und – noch vor Erstattung des Gutachtens – mit dem Angeklagten und den Verfahrensbeteiligten zwei Lichtbildmappen in Augenschein genommen. Diese enthielten auf 77 Seiten 183 Lichtbilder von der Wohnung des Angeklagten und verfahrensrelevanten Gegenständen, u.a. kindliche Zeichnungen und Liebesbriefe (wohl von der Geschädigten) an den Angeklagten, die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung sichergestellt worden waren. Nach zehnminütiger Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Sachverständige sein Gutachten erstattet und als Zeuge ausgesagt. Anschließend hat sich der Angeklagte zur Sache geäußert. Nach der Anordnung, den Sachverständigen unvereidigt zu lassen und zu entlassen, hat der Vorsitzende verfügt, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und am 21. April 2016 fortzusetzen. Das Protokoll vermerkt nicht, dass die Öffentlichkeit vor der Inaugenscheinnahme der Lichtbilder, vor der Äußerung des Angeklagten zur Sache und vor der Verfügung des Fortsetzungstermins wiederhergestellt worden ist.

Das Prozedere missfällt dem BGH. Denn:

„Die Wiederherstellung der Öffentlichkeit gehört jedoch zu den wesentlichen Förmlichkeiten, für welche die besondere Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO gilt (vgl. BGH, Beschluss vom 31. März 1994 – 1 StR 48/94, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 15; BGH, Beschluss vom 21. Juli 2000 – 3 StR 228/00, bei Becker NStZ-RR 2001, 264 Nr. 26 jeweils mwN). Das – weder lückenhafte noch widersprüchliche – Protokoll beweist daher, dass die an die genannten Verfahrensvorgänge jeweils anschließende weitere Hauptverhandlung – wie von der Revision geltend gemacht – in Abwesenheit der Öffentlichkeit stattgefunden hat.

2. Während für die Anberaumung des Fortsetzungstermins die Öffentlichkeit nicht wiederhergestellt werden musste (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2005 – 3 StR 214/05, NStZ 2006, 117), liegt in der Nichtwiederherstellung der Öffentlichkeit vor Einnahme des Augenscheins und Äußerung des Angeklagten jeweils ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit.

Zwar deckt der Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit für den Zeitraum der Vernehmung einer Beweisperson auch die im Zusammenhang mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehenden oder sich aus ihr entwickelnden Verfahrensvorgänge ab (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2015 – 5 StR 467/15, NStZ 2016, 118 mit Anm. Bittmann; Urteile vom 17. Dezember 1987 – 4 StR 614/87, NStZ 1988, 190 zur Augenscheinseinnah-me; vom 15. April 2003 – 1 StR 64/03, BGHSt 48, 268 zur Entlassung eines Zeugen; vom 20. September 2005 – 3 StR 214/05, NStZ 2006, 117 zu Erklä-rungen des Angeklagten nach § 257 StPO).

Die in Augenschein genommenen Lichtbilder hatten jedoch ersichtlich keinen Bezug zum Inhalt des erstatteten Gutachtens und zu den zeugenschaftlichen Bekundungen des Sachverständigen. Auch erfolgte die Inaugenscheinnahme ausweislich des Protokolls „mit dem Angeklagten und den übrigen Verfahrensbeteiligten“, zu denen der Sachverständige nach seiner prozessualen Funktion als persönliches Beweismittel begrifflich nicht gehört (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., Einl. Rn. 75, 100).

Auch die Äußerungen des Angeklagten standen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Gutachtenerstattung, weil er nach dem Protokoll nicht nur eine Erklärung zur vorangegangenen Beweiserhebung nach § 257 StPO abgab, sondern sich „zur Sache“ äußerte.

Da auch ersichtlich kein Fall vorliegt, in dem das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß denkgesetzlich ausgeschlossen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 1995 – 1 StR 342/95, NJW 1996, 138), war das Urteil insgesamt aufzuheben.“

Wie gesagt: Vermintes Terrain….