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U-Haft III: Unbestrafter Asylbewerber in Erstaufnahme, oder: Fluchtgefahr, ja oder nein?

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und dann zum Tagesschluss noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 26.10.2021 – 12 Qs 75/21 – der sich mit der Frage des Vorliegens von Fluchgefahr, bei einem eines einzelnen Diebstahls (Wert des Diebesguts: 105 EUR) verdächtigen, bislang nicht vorbestraften Beschuldigte, der sich als Asylbewerber gewöhnlich in einer Erstaufnahmeeinrichtung aufhält – in der er keinen Wohnsitz i.S.d. § 7 BGB begründet hat,  befasst. Das LG hat mit dem AG „Fluchtgefahr“ i.S. von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verneint:

„Die zulässig erhobene Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Amtsgericht den beantragten Haftbefehl nicht erlassen.

Der von der Staatsanwaltschaft angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) ist nach Aktenlage nicht gegeben. Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn es aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Falles wahrscheinlicher ist, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen als dass er sich ihm stellen werde (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 1 StR 726/13, juris Rn. 15; Lind in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 112 Rn. 48 m.w.N.).

1. Nicht weiterführend ist in diesem Zusammenhang allerdings der von der Beschwerde vertiefte Punkt, dass die Beschuldigten in der Erstaufnahmeeinrichtung keinen Wohnsitz i.S.d. § 7 BGB innehaben. Der Wohnsitz wird begründet durch die tatsächliche Niederlassung verbunden mit dem Willen, den Ort zum ständigen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen (BayObLG, Beschluss vom 30. April 1985 – BReg 1 Z 16/85, juris Rn. 18). Das ist bei einer Erstaufnahmeeinrichtung ersichtlich nicht der Fall. Das ist für das Strafverfahren aber auch unerheblich. Erforderlich und ausreichend ist dort vielmehr, dass mit einer zügigen und geordneten Durchführung des Verfahrens gerechnet werden kann. Grundbedingung hierfür ist die Kommunikationsmöglichkeit zwischen Staatsanwaltschaft bzw. Gericht und dem Beschuldigten, wozu etwa gehört, dass Zustellungen an den Beschuldigten ausgeführt werden können. Das verlangt aber nicht ein Maß an Ortsstabilität, wie es bei einem Wohnsitz der Fall wäre. Ausreichend ist, wenn sich der Beschuldigte an einem der Justiz bekannten Ort aufhält und dort zuverlässig kontaktiert werden kann (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Dezember 2015 – 1 Ws 168/15, juris Rn. 19 f.).

Das ist bei den beiden Beschuldigten der Fall. Sie halten sich in der Einrichtung nachweislich auf, haben dort Schlafplätze und eigene Spinde. Die Kammer geht aufgrund telefonischer Auskunft der Erstaufnahmeeinrichtung im Übrigen von folgenden tatsächlichen Gegebenheiten aus: Die Bewohner sind dort registriert und bestimmten Zimmern als Wohnplatz zugewiesen. Eingehende Post wird zentral in der Einrichtung gesammelt und erfasst. Bewohner, für die Post eingegangen ist, werden mit Namen in eine aushängende Liste eingetragen. Sie können dann die Post bei der Ausgabe abholen. Wird ein Poststück nach zwei Tagen immer noch nicht abgeholt, sucht der Sicherheitsdienst – gegebenenfalls wiederholt – nach dem Bewohner und informiert ihn persönlich darüber, dass Post für ihn bereitliegt. Wird der Adressat auch nach einer Woche nicht aufgefunden oder angetroffen, geht das Poststück an den Empfänger als unzustellbar zurück.

Ein solcher tatsächlicher Rahmen ist im Ansatz für die genannten Erfordernisse und Zwecke des Strafverfahrens ausreichend, sodass jedenfalls insoweit die Anordnung von Untersuchungshaft nicht geboten erscheint. Ergänzend macht sich die Kammer hier die zutreffenden Ausführungen des Ermittlungsrichters in der Nichtabhilfeentscheidung zu eigen.

2. Jenseits dessen hätte die Kammer allerdings keine durchgreifenden Bedenken, den Haftgrund der Fluchtgefahr anzunehmen, wenn die vorgelegte Akte das, was sie teils nur andeutet, auch belegen würde.

So sind beide Beschuldigte gut einen Monat vor ihrer vorläufigen Festnahme in die Bundesrepublik eingereist. Der Beschuldigte B. ist laut polizeilicher Vorgangsverwaltung seitdem viermal, der Beschuldigte R. einmal wegen Diebstahls in Erscheinung getreten. Allerdings finden sich zu diesen anderen mutmaßlichen Diebstählen keine weiteren Angaben in der Akte. Grundsätzlich können Seriendiebstähle kurz nach Einreise und Asylantragstellung als Indiz dafür gewertet werden, dass es dem Beschuldigten nicht um politischen Schutz, sondern vorrangig um die Gelegenheit zur schnellen rechtswidrigen Bereicherung bis zur allfälligen Abschiebung geht. Bei dieser Ausgangslage gibt es regelmäßig keinen Grund anzunehmen, der Beschuldigte wolle sich dem – das Geschäftsmodell störenden – Strafverfahren stellen, im Gegenteil. Um dies aber für eine Haftentscheidung schlüssig darlegen zu können, bedarf es der Zusammenführung der einzelnen Ermittlungsverfahren wegen der verschiedenen Diebstähle, weil erst so die Gewerbsmäßigkeit (§ 243 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB) und damit der Fluchtanreiz wegen der erhöhten Strafdrohung fassbar werden. Daran fehlt es bislang.

Die fehlenden sozialen Bindungen im Inland führen daher angesichts der derzeit nur geringen tatsächlich belegten Strafdrohung – nämlich allein für den Diebstahl der Kosmetika – dazu, dass von einem ausreichenden Fluchtanreiz gegenwärtig nicht gesprochen werden kann.“

Fahrerlaubnisrecht: Auch ein Asylbewerber ohne Pass darf den Führerschein machen….

entnommen wikimedia.org Urheber Bundesrepublik Deutschland, Bundesministerium des Innern

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Urheber Bundesrepublik Deutschland, Bundesministerium des Innern

Ich habe schon länger keinen Beitrag mehr zum Verkehrsverwaltungsrecht gebracht. Heute ist Samstag und da passt dann aber ein solcher Beitrag ganz gut in den „Kessel Buntes“. Ich stelle daher das BVerwG, Urt. v. 08.09.2016 – 3 C 16.15 – vor, dessen Volltext in der vergangenen Woche veröffentlicht worden ist.

Entschieden worden ist über die Klage eines nach seinen Angaben aus Afghanistan stammenden Asylbewerbers. Der wollte in der Bundesrepublik Deutschland eine Fahrerlaubnis erwerben. Er hat im Januar 2013 – also kein Asylbewerber der „Flüchtlingswelle“ des Jahres 2015  – beantragt, als Identitätsnachweis für den Fahrerlaubniserwerb die ihm in Deutschland ausgestellte und mit einem Lichtbild versehene Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung genügen zu lassen. Das hat die Verwaltungsbehörde abgelehnt. Begründung:  Nach der FeV sei zur Überprüfung der Identität des Bewerbers u.a. ein amtlicher Nachweis über Ort und Tag der Geburt beizubringen sei. Diesen Anforderungen genüge die vorgelegte Bescheinigung nicht, denn die Eintragungen zu Tag und Ort seiner Geburt beruhten ausschließlich auf den eigenen Angaben des Führerschienbewerbers. Die dagegen gerichtete Klage des Asylbewerbers hatte beim VG Erfolg. Die Berufung der Behörde hat der HessVGH zurückgewiesen. Und auch die Revision der Behörde hatte beim BVerwG keinen Erfolg. Das hat mit Urt. v. 08.09.2016 die Revision zurückgewiesen.

Die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Eine Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens mit Lichtbild und dem Vermerk, dass die Personenangaben auf den eigenen Angaben des Inhabers beruhen, kann als Nachweis von Tag und Ort der Geburt bei der Beantragung einer Fahrerlaubnis genügen. Etwas anderes gilt, wenn konkrete Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben bestehen.
  2. Eine solche anerkennungsfähige Bescheinigung genügt dann auch für den Sachverständigen oder Prüfer, um sich vor der theoretischen und praktischen Fahrprüfung davon zu überzeugen, dass der Prüfling mit dem Antragsteller identisch ist. Gleiches gilt für die Identitätsfeststellung vor der Aushändigung des Führerscheins.

Liegt m.E. auf der Hand, denn wie sonst soll in diesen Fällen der Identitätsnachweis geführt werden?