Und zum „krönenden“ Abschluss des Tages hier dann noch der OLG Naumburg, Beschl. v. 22.05.2023 – 1 ORs 64/23 – zur Zulässigkeit und zur Begründetheit einer sog. Inbegriffsrüge. Die Entscheidung war übrigens neulich Gegenstand der Fortbildung bei den 4. Erfurter Strafrechtsgesprächen
Folgender Sachverhalt: Das AG verurteilt den Angeklagten wegen Diebstahls von Baumaschinen. Dagegen zunächst die Berufung. Der Verteidiger wechselt dann, als er die Begründung des AG gelesen hat 🙂 , zur Sprungrevision und begründet diese mit mehreren Verfahrensrügen und der Rüge materiellen Rechts näher. Und der Kollege Siebers aus Braunschweig, der mir den Beschluss geschickt hat, hat mit dem Rechtsmittel Erfolg:
„Die (Sprung-)Revision hat auch in der Sache – zumindest vorläufig – Erfolg und führt schon auf die erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 261 StPO (Inbegriffsrüge) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Eines Eingehens auf die weiter erhobenen Rügen bedarf es daher nicht mehr.
Die Inbegriffsrüge, mit welcher der Angeklagte beanstandet, dass die im angefochtenen Urteil enthaltenen Feststellungen zur Schadenshöhe, zu Folgen der Tat auf den Ablaufplan und die Organisation der Baustelle, zu Mehrkosten verursachenden Verzögerungen des Baufortschritts, zum Verbleib des Schadens bei der geschädigten Firma und zur Frage der Spontanität des Tatentschlusses nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel gewonnen worden sind, ist in zulässiger Weise erhoben. Die Revision trägt vor, dass außer der über seinen Verteidiger vorgebrachten Einlassung des Angeklagten, mit der der Tatvorwurf bis auf die Schadenshöhe eingeräumt wurde, keinerlei Beweise in der Hauptverhandlung erhoben wurden, was durch das in der Revisionsbegründung mitgeteilte Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen wird (§ 274 Abs. 1 StPO). Weiter trägt die Revision ¬wie erforderlich – vor, dass die Feststellungen auch nicht durch andere Vorgänge, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören, gewonnen worden sind.
Die Verfahrensrüge ist begründet, da das Gericht seine Überzeugung von den Folgen der Tat für die geschädigte Firma unter Verstoß gegen § 261 StPO gewonnen hat, wonach die Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist. Es ist nicht ersichtlich, worauf das Gericht seine Überzeugung,
– der Wiederbeschaffungswert der entwendeten Werkzeuge und Baumaschinen betrage 42.000,00 €,
– durch die Tat des Angeklagten sei der Ablaufplan und die Organisation der Baustelle massiv und empfindlich gestört worden,
– es sei davon auszugehen, dass der Baufortschritt der Baustelle sich erheblich verzögert habe. was mit erheblichen Mehrkosten verbunden sei
– der Schaden sei bei der geschädigten Firma verblieben,
stützt. Der Einlassung des Angeklagten sind diese Ausführungen nicht zu entnehmen. Weitere Beweise wurden nicht erhoben. Die Verzögerung des Baufortschritts oder der Verbleib des Schadens bei der geschädigten Firma sind auch nicht zwingende Folgen eines Diebstahls von Bauwerkzeugen, da die Möglichkeit der Verfügbarkeit von Ersatzgeräten beziehungsweise des Eintritts einer Versicherung besteht.
Auf der Verletzung des § 261 StPO beruht das Urteil, da das Amtsgericht den o.g. Feststellungen bei seiner Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten Relevanz beigemessen hat. Darüber hinaus liegt ein Verstoß gegen den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör vor. Gründet das Gericht seine Überzeugung nämlich auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern könnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (BGH, 2 StR 433/15 v. 21.01.2016, NStZ 2017, 375, beck-online; KG, 3 Ws 282/17 – 122 Ss 174/17 v. 14.09.2017).“
Alles richtig gemacht. Vor allem hat die Revisionsbegründung den wichtigen Satz enthalten, „dass die Feststellungen auch nicht durch andere Vorgänge, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören, gewonnen worden sind“. Ohne den wird die sog. Inbegriffsrüge keinen Erfolg haben. Schon gar nicht beim 1. Strafsenat des OLG Naumburg :-).
Im Übrigen auch hier: „zumindest – vorläufig Erfolg„. Die Formulierung ist m.E. – gelinde ausgedrückt – überflüssig, wenn nicht falsch. Denn diese Revision hat nicht nur „vorläufig Erfolg„, sondern endgültig. Das AG-Urteil wird aufgehoben.