Und dann zum Tagesschluss noch der BGH, Beschl. v. 29.11.2022 – 4 StR 149/22, über den ja schon an anderen Stellen berichtet worden ist. Es ist die Geschichte vom LG Hagen, das dort eine Richterin am AG wegen Rechtsbeugung durch Unterlassen verurteilt hatte, und zwar zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten.
Folgender Sachverhalt – in Kurzform, im Übrigen verweise ich auf den verlinkten Volltext: Die Angeklagte war Richterin auf Lebenszeit am AG. Unter Verfälschung des Hauptverhandlungsprotokolls hat sie u.a. eine erstinstanzliche Strafsache fortgesetzt, obwohl sie den Angeklagten in dessen Abwesenheit bereits verurteilt hatte. Dies tat sie, um zu verschleiern, das schriftliche Urteil entgegen § 275 Abs. 1 StPO nicht rechtzeitig zu den Akten gebracht zu haben. In anderen Strafsachen täuschte sie die fristgerechte Urteilsabsetzung mithilfe von Verfügungen und Vermerken vor oder brachte die Urteile überhaupt nicht zu den Akten. Zudem verweigerte sie die Bearbeitung von Verfahren in Familiensachen und deponierte die Akten in ihrem Keller.
Die Revision war nur zum Strafausspruch erfolgreich. Wegen der Ausführungen des BGH zum Schuldspruch verweise ich auf den Volltext.Hier nur Leitsätze:
- Ein Rechtsbeugung kann durch Unterlassen begangen werden, wenn dies angesichts der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls nicht nur eine fehlerhafte Sachbehandlung darstellt, sondern wenn bewusst gegen eine Vorschrift verstoßen wird, die ein bestimmtes Handeln unabweislich zur Pflicht macht, wenn der Richter untätig bleibt, obwohl besondere Umstände sofortiges Handeln zwingend gebieten oder wenn die zögerliche Bearbeitung auf sachfremden Erwägungen zum Vorteil oder Nachteil einer Partei beruht.
- Das kann der Fall sein, wenn mehrfach und dauerhaft Urteile entgegen § 275 Abs. 1 StPO nicht abgesetzt werden oder bei der Bearbeitung von Akten eine Totalverweigerung besteht.
Zur Aufhebung des Strafausspruchs führt der BGh aus:
„III. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung insgesamt nicht stand.
1. a) Die Verneinung einer verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten (§ 21 StGB) lässt allerdings auch unter Berücksichtigung ihres weiteren Vorbringens in der Gegenerklärung vom 30. August 2022 keinen auf Sachrüge beachtlichen Rechtsfehler zu ihrem Nachteil erkennen.
b) In den Fällen 6 bis 8, 11, 13 und 14 genügt die Strafrahmenwahl den rechtlichen Anforderungen gleichwohl nicht. Das Landgericht hat den Strafrahmen insoweit jeweils § 339 StGB als dem verletzten Strafgesetz entnommen, das die schwerste Strafe androht (§ 52 Abs. 2 StGB). Bei diesen Unterlassungstaten hat es jedoch – auf der Grundlage seiner rechtlichen Würdigung folgerichtig – eine Milderung nach § 13 Abs. 1 und 2, § 49 Abs. 1 StGB nicht geprüft. Dies beschwert die Angeklagte hinsichtlich der Mindeststrafe des anzuwendenden Strafrahmens.
c) Darüber hinaus ist die Wahl des Strafrahmens im Fall 1 rechtsfehlerhaft, in dem das Landgericht den Regelstrafrahmen des § 267 Abs. 3 Satz 1 StGB herangezogen hat. Es hat bei der Prüfung eines „unbenannten minder schweren Falls“ – richtig: bei der Frage, ob von der Regelwirkung abzusehen ist – als straferschwerend gewertet, dass die Angeklagte dem „Ansehen und Vertrauen in die Justiz“ geschadet habe. Insofern durfte das Landgericht zwar eine tateinheitliche Verwirklichung von § 339 StGB berücksichtigen. Die Strafkammer hat aber einen tatsächlich eingetretenen Ansehensverlust der Justiz weder konkret festgestellt noch belegt. Zudem hat das Landgericht nicht bedacht, dass eingetretene Tatfolgen nur dann mit ihrem vollen Gewicht bei der Einzelstrafbemessung berücksichtigt werden können, wenn sie unmittelbare Folge allein einzelner Taten sind (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2022 – 4 StR 449/21 Rn. 4; Beschluss vom 18. Februar 2021 – 2 StR 7/21 Rn. 4).
2. Bei der konkreten Bemessung der Einzelstrafen liegt der zuletzt aufgezeigte Rechtsfehler ebenfalls vor. Die Erwägung, die Angeklagte habe dem Ansehen der Justiz geschadet, hat das Landgericht über die Einzelstrafe im Fall 1 hinaus strafschärfend auch den Einzelstrafen in den Fällen 2 bis 14 zugrunde gelegt. Da es insoweit jeweils den Strafrahmen des § 339 StGB angewendet hat, tritt hier als weiterer Rechtsfehler ein Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB hinzu.
Über dessen Wortlaut hinaus, der nur die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands nennt, darf auch das Schutzziel der Strafdrohung nicht erschwerend bei der Strafbemessung berücksichtigt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2022 – 6 StR 274/22; Beschluss vom 9. Januar 1987 – 2 StR 641/86 Rn. 7; Schneider in LK-StGB, 13. Aufl., § 46 Rn. 256; Maier in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 46 Rn. 538; jeweils mwN). Der Schutzweck des § 339 StGB geht u. a. dahin, mit der innerstaatlichen Rechtspflege auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit und Rechtstreue der rechtsprechenden Organe zu schützen (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 339 Rn. 2; Sinner in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 339 Rn. 2; Kudlich in SSW-StGB, 5. Aufl., § 339 Rn. 5). Die strafschärfende Berücksichtigung eines Ansehens- und Vertrauensverlustes der Justiz, jedenfalls solange er nicht außergewöhnlich schwer ist, scheidet daher aus, wenn die Strafe aus dem Strafrahmen des § 339 StGB zuzumessen ist. Dies hat das Landgericht übersehen.