Und heute dann mal – seit längerem – mal wieder – verkehrsrechtliche Entscheidungen.
Zunächst stelle ich – quasi zum Warmwerden – den BGH, Beschl. v. 02.02.203 – 4 StR 293/22 – vor. Thematk: Einer der verkehrsrechtlichen Dauerbrenner, nämlich die Frage nahc dem sog. Beinaheunfall bei § 315c StGB – Gefährdung des Straßenverkehrs.
Das LGte hat den Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte hinsichtlich der Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 315c StGB „Erfolg“:
„1. Der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 b), Abs. 3 Nr. 1 StGB im Fall B 2 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass durch den von dem Angeklagten eingeleiteten falschen Überholvorgang eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden ist.
a) Nach den Feststellungen zu Fall B 2 der Urteilsgründe fuhr der Angeklagte auf die BAB 45 auf und beschleunigte sofort stark auf über 200 km/h, um sich einer Kontrolle durch ihn mit einem Streifenwagen verfolgende Polizeibeamte zu entziehen. Anschließend befuhr er über eine Strecke von mehr als 60 km die BAB 45, wobei er zum Zwecke der Flucht vor dem ihn durchgehend verfolgenden polizeilichen Einsatzfahrzeug stets versuchte, nach den konkreten Gegebenheiten die maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen und entsprechend der Motorisierung seines Fahrzeugs und der konkreten Verkehrslage „alles aus seinem Fahrzeug herauszuholen“. Dabei überholte er, möglichst unter konstanter Beibehaltung einer Geschwindigkeit von über 200 km/h fahrend, mehrfach andere Verkehrsteilnehmer links und rechts, wobei er andere Fahrzeuge auch unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bedrängte und zum Wechsel auf die rechte Spur nötigte. Im Verlauf der Fahrt musste er u.a. aufgrund einer Baustelle eine Fahrbahnverengung passieren, wobei an der konkreten Stelle eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h vorgeschrieben war. Der Angeklagte fuhr an dem stockenden Verkehr vorbei, indem er diesen unter Ausnutzung des Standstreifens rechtsseitig mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h überholte. Am Ende des Standstreifens bremste er stark ab und „scherte abrupt und ruckartig“ in gefährlicher Fahrweise nach links vor einem anderen PKW ein. Das Fahrzeug musste „stark abbremsen“ um eine Kollision zu vermeiden.
Anschließend beschleunigte der Angeklagte wiederum stark und zog auf die rechte der nun getrennt verlaufenden Fahrspuren, welche er mit 140 km/h befuhr. Im weiteren Verlauf konnte er infolge der Einspurigkeit der Fahrbahn einen vor ihm fahrenden LKW nicht mehr überholen und fuhr trotz eingeleiteter Vollbremsung auf dessen Anhänger auf, wodurch an diesem ein Schaden in Höhe von 2.814,35 € entstand.
b) Diese Feststellungen tragen die Annahme des objektiven Tatbestandes der Gefährdung des Straßenverkehrs nicht. § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (st. Rspr.; vgl. zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 – 4 StR 155/21, juris Rn. 5 mwN).
Hieran gemessen fehlt es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision nur durch eine starke Bremsung habe vermieden werden können. Es fehlt an Darlegungen zu den Abständen zwischen den Fahrzeugen, den von ihnen zum Zeitpunkt des Einscherens gefahrenen Geschwindigkeiten und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung. Eine den obigen Anforderungen entsprechende kritische Verkehrssituation, in der eine eingetretene konkrete Gefahr durch eine Tathandlung des falschen Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB verursacht wurde, kann den Urteilsfeststellungen nicht entnommen werden.
c) Der Senat schließt aus, dass in einem zweiten Rechtsgang noch entsprechende Feststellungen getroffen werden können, und lässt die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs daher entfallen. Damit verbleibt es im Fall B 2 bei der insoweit rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 4 StGB in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis.“
Hatte die Revision wirklich „Erfolg“? Na ja, denn: Es ist nur der Schuldspruch wegen § 315c StGB entfallen. Im Übrigen:
„2. Trotz der Änderung des Schuldspruchs kann die im Fall B 2 verhängte Einzelstrafe bestehen bleiben. Das Landgericht hat gegen den Angeklagten wegen dieser Tat eine Einzelstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verhängt, die es – rechtsfehlerfrei – gemäß § 52 Abs. 2 StGB dem Strafrahmen des § 315d Abs. 4 StGB entnommen hat. Angesichts der gewichtigen, in die Strafzumessungsbegründung der Strafkammer eingestellten strafschärfenden Umstände (erhebliche und auch einschlägige Vorstrafen; Tat unter laufender Führungsaufsicht begangen; verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Unfallfolge und über eine Distanz von mindestens 60 km) kann der Senat ausschließen, dass der rechtsfehlerhafte Schuldspruch nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b), Abs. 3 Nr. 1 StGB sich bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.“
Ich bin immer erstaunt, was die Strafsenate so alles ausschließen können. Wenn man beim BGH ist, kann man das aber wahrscheinlich……