Strafe II: Staatliche Mitverantwortung für Straftaten, oder: Kann das ein Strafzumessungsgrund sein?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 06.12.2022 – 5 RVs 103/22 – vom OLG Hamm. Das nimmt zur staatliche Mitverantwortung für Straftaten als Strafzumessungsgrund Stellung. Es geht also um die Frage, ob eine Strafmilderung geboten sein kann, wenn durch wiederholte Nichtahndung oder nicht nachvollziehbare milde Sanktionierung früherer vom Angeklagten begangener Straftaten bei diesem vor der Begehung der aktuell abzuurteilenden Tat der Eindruck entstehen konnte, dass seine Taten nicht nachhaltig verfolgt werden bzw. ihm nichts oder nichts Gravierendes passieren kann.

Das OLG meint dazu in einem Zusatz:

„Näherer Erörterung bedarf nur Folgendes:

1. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes des § 38 Abs. 2 StGB (hier: vier Monate) bei Diebstahlstaten mit bagatellartigem Schaden (hier: 11 Euro), ist rechtlich zulässig. Die Schadenshöhe ist bei Diebstahlstaten zwar ein wesentlicher bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt. Ob aber eine das gesetzliche Mindestmaß überschreitende Freiheitsstrafe das Übermaßverbot verletzt, hängt von einer Gesamtschau aller strafzumessungsrelevanten Gesichtspunkte ab (vgl. nur: OLG Hamm, Urt. v. 21.10.2014 – III – 1 RVs 82/14 – juris m.w.N.). Vor dem Hintergrund der (allein) vom Berufungsgericht berücksichtigten letzten drei – weitgehend wegen einschlägiger Delikte verhängten -Vorstrafen, der Tatbegehung in laufender Bewährungszeit und der Tatbegehung nur drei Monate nach der letzten Verurteilung, ist das Übermaßverbot auch angesichts des geringen Schadens, des Geständnisses und der Tatumstände (quengelndes Kind) sowie des drohenden Bewährungswiderrufs mit der Verhängung der vollstreckbaren Freiheitsstrafe von vier Monaten noch nicht verletzt.

2. Die Berufungsstrafkammer war auch (noch) nicht gehalten, eine Strafmilderung unter dem Gesichtspunkt eines unzureichenden konsequenten Einschreitens der zur Strafverfolgung berufenen Organe in früheren gegen den Angeklagten geführten Verfahren zu erörtern.

Die staatliche Mitverantwortung für Straftaten kann ein bestimmender Strafzumessungrund sein, wenn sie über eine bloße kausale Mitverursachung hinausgeht (BGH NStZ-RR 2009, 167). Im Einzelfall kann unter besonderen Umständen eine Strafmilderung dann geboten sein, wenn ein früheres Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden unabweisbar geboten gewesen wäre, wobei allerdings grundsätzlich kein Anspruch des Angeklagten darauf besteht, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten (vgl. BGH, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 StR 275/10 – juris). Der Senat hält diese Rechtsprechung, die sich auf einen Fall bezog, in dem die entsprechende (Finanz-)Behörde gegen ihr bekannte Steuervergehen in einer dem dortigen Angeklagten erkennbaren Weise zunächst nicht eingeschritten ist, für übertragbar auch auf den Fall, dass gegen einen Straftäter seitens der zur Strafverfolgung berufenen Organe trotz vielfacher wiederholter Begehung von Straftaten eine kaum spürbare Sanktion verhängt wird oder gar keine Sanktionierung seiner Taten erfolgt. Der hinter der geschilderten Rechtsprechung erkennbar stehende Gedanke, dass durch ein nicht frühzeitiges Einschreiten ein Anreiz zur Fortführung der Taten bzw. Anreiz zur Begehung neuer Taten geschaffen wird oder die Taten zumindest erleichtert werden, gilt auch hier. Wird bei einer wiederholten Begehung von Straftaten keine Sanktion (etwa bei einer auflagenlosen Einstellung nach Opportunitätsgrundsätzen) oder eine unverständlich milde Sanktion verhängt, kann bei dem Täter der Eindruck entstehen, dass seine Taten nicht nachhaltig verfolgt bzw. ihm nichts oder nichts Gravierendes passieren könne. Eine Strafmilderung unter diesem Gesichtspunkt ist freilich eine Ausnahme. Nicht jede zu milde Ahndung einer früheren Tat oder eine Verfahrenseinstellung nach Opportunitätsgrundsätzen gebietet eine entsprechende Erörterung im Rahmen der St rafzumessung (vgl. BGH a.a.O.).

Die Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten bzw. zu den ihn betreffenden Eintragungen im Bundeszentralregister im angefochtenen Urteil ergeben, dass er (möglicherweise) bereits im Juni 2015 und im Januar 2016 zu Geldstrafen wegen Leistungserschleichung und wegen Diebstahls verurteilt worden war. Diese Verurteilungen sollen im April 2016 in eine Jugendstrafe von sechs Monaten einbezogen worden sein, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und die im Oktober 2018 erlassen wurde. Im Oktober 2016 wurde sodann von der Verfolgung einer Leistungserschleichung, im Januar 2017 von der Verfolgung eines Diebstals und im April 2017 von der Verfolgung zweier Leistungserschleichungen jeweils nach § 45 Abs. 1 JGG abgesehen. Im Juni 2019 wurde der Angeklagte dann wegen Leistungserschleichung und wegen Diebstahls zu einer Bewährungsstrafe von fünf Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Aus dieser Strafe und der Freiheitsstrafe von neun Monaten (ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt) wegen Diebstahls mit Waffen aus Juli 2019 wurde im November nachträglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat (mit Bewährung) gebildet. Schließlich wurde der Angeklagte im Februar 2021 zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten wegen Diebstahls und Beleidigung verurteilt. Dabei bleibt allerdings letztlich unklar, welche Vorverurteilungen aus der Zeit vor 2019 tatsächlich zu Grunde zu legen sind, oder ob hier Eintragungen bereits getilgt wurden, denn im angefochtenen Urteil werden die Vorahndungen teils als Eintragungen im Bundeszentralregister, teils bloß als Wiedergabe der Feststellungen zur Person aus einem früheren Erkenntnis dargestellt, welche (offenbar) nicht (mehr?) im Bundeszentralregister enthalten sind. Dies bedarf aber keiner weiteren Klärung.

Dass das Berufungsgericht keine Strafmilderung unter dem o.g. Aspekt erörtert hat, ist letztlich rechtlich nicht zu beanstanden. Auf den ersten Blick könnte zwar der oben dargestellte Sachverhalt dafür sprechen, dass ein für den Angeklagten spürbares Einschreiten der Strafverfolgungsorgane zu einem früheren Zeitpunkt unabweisbar geboten gewesen sein könnte, wenn man betrachtet, dass drei Verfahren nach § 45 Abs.1 JGG eingestellt worden sind, als der Angeklagte (womöglich) schon in anderer Sache unter Bewährung gestanden haben soll, und hernach als Reaktion auf neue Verfehlungen (immer) wieder erneut verhängte Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt wurden. Für ein solches Vorgehen mag es im Einzelfall Gründe gegeben haben, die aber im angefochtenen Urteil nicht benannt werden. So mag es sein, dass die Verfahrenseinstellungen Taten betrafen, die keinen Bewährungsbruch darstellten etc. Ohne nähere Darlegung ist diese Sanktionierungspraxis allerdings schlechthin nicht nachvollziehbar und könnte in dem Angeklagten den Eindruck erweckt haben, dass die Begehung von Straftaten keine spürbaren Konsequenzen nach sich ziehe. Andererseits ist zu sehen, dass der Angeklagte in den Bewährungsverfahren, die auf den Verurteilungen aus dem Jahr 2019 beruhen, Arbeitsauflagen abzuleisten hatte und diese auch tatsächlich abgeleistet hat. Selbst, wenn es also tatsächlich so gewesen sein sollte, dass der Angeklagte in den Jahren 2016/2017, unter laufender Bewährung stehend, in den Genuss dreier Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 1 JGG gekommen ist, so ist es im vorliegenden Fall doch nicht so, dass er vor der jetzt abgeurteilten Tat noch gar keine spürbare Sanktion erhalten hat, die zu einem irrtümlichen Eindruck bei dem Angeklagten, die (wiederholte) Begehung von Straftaten (und auch die Begehung der nunmehr abgeurteilten Tat) werde nicht nachhaltig ge ahndet, hätte führen können.“

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