Und heute dann ein wenig Verfahrensrecht, und zwar drei Entscheidungen zur Begründung der Rechtsbeschwerde. Die Ausführungen der OLG haben dann aber auch Auswirkungen auf die Begründung einer Revision.
Ich beginne mit dem KG, Beschl. v. 01.03.2022 – 3 Ws (B) 38/22 – zur Rechtsbeschwerde bei nicht gewährter Akteneinsicht. Das AG hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot angeordnet. Hiergegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die durch zwei Schriftsätze seines Verteidigers begründet worden ist. Im zweiten Schriftsatz, der außerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingegangen ist, ist zugleich Wiedereinsetzung in die Frist. Weder der Wiedereisetzungsantrag noch die Rechtsbeschwerde hatten beim KG Erfolg.
„1. Der Antrag des Betroffenen, ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Rechtsbeschwerdebegründung zu bewilligen, ist unzulässig.
a) Es steht schon in Frage, ob der Betroffene, der die Rechtsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist der §§ 79 Abs. 3 OWiG, § 345 Abs. 1 StPO mit mehreren ausgeführten Verfahrensrügen und der ebenfalls ausgeführten Sachrüge begründet hat, überhaupt eine Frist versäumt hat (vgl. BGH NStZ 2000, 326). Jedenfalls fehlt es für die Wiedereinsetzung zur Anbringung der weiteren Verfahrensrügen an der Darlegung, dass der Verteidiger sich in angemessener Weise um rechtzeitige Akteneinsicht bemüht hat. Das Wiedereinsetzungsgesuch verhält sich hierzu gar nicht und führt nur aus, die Akte sei erst am 27. Dezember 2021 „angewiesen“ und am 6. Januar 2022 „als Päckchen zugestellt“ worden. Das Gesuch lässt aber nicht erkennen, dass, warum und in Bezug auf welche nun vorgetragenen Umstände überhaupt eine Fristsäumnis mit dem geschilderten Umstand in Zusammenhang steht. Schon gar nicht verhält sich die Antragsschrift dazu, dass die Fristsäumnis unverschuldet war. Der BGH hat verschiedentlich entschieden, dass es „mit Blick auf das drohende Fristversäumnis“ Aufgabe des Rechtsanwalts ist, an die Erledigung eines unbeschiedenen Akteneinsichtsersuchens zu erinnern (vgl. BGH NStZ 2000, 326; bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1985, 492; vgl. auch OLG Koblenz VRS 70, 282 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 44 Rn 7b). Dies ist hier nicht fristgerecht (§ 45 Abs. 1 StPO) vorgetragen worden.
Lediglich informatorisch ist anzumerken, dass die mit 22. Dezember 2021 datierende (schriftliche) Wiederholung des Akteneinsichtsgesuchs trotz Fristenlaufs und erkennbarer Eilbedürftigkeit erst am 28. Dezember 2021 beim Amtsgericht (per beA) einging. Diese Erinnerung hat sich nicht ausgewirkt, weil die Akte, wie der Rechtsmittelführer mitteilt, bereits per Verfügung vom 27. Dezember 2021 übersandt worden ist. Zudem war am 28. Dezember 2021 mit einer rechtzeitigen Aktenübersendung ohnehin kaum zu rechnen, denn die Rechtsmittelbegründungsfrist endete bereits mit Ablauf des 2. Januar 2022.
b) Unbehelflich ist der im Schriftsatz vom 25. Februar 2022 enthaltene Hinweis, in der „vorläufigen Rechtsbeschwerdebegründung vom 22.12.2021“ seien weitere Ausführungen „ausdrücklich vorbehalten“ worden. Weder kennt das Prozessrecht die hier in Anspruch genommene „vorläufige Rechtsbeschwerdebegründung“ noch können verspätete Ausführungen „vorbehalten“ bleiben. Vielmehr kann die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist nicht verlängert werden (vgl. BGH NStZ 1988, 20 [Revision]), schon gar nicht durch einseitige Erklärung („Vorbehalten“) des Rechtsmittelführers. Im Grundsatz statthaft ist allerdings die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die eine schuldlose Fristsäumnis erfordert, an deren Darstellung es hier, wie ausgeführt, gerade fehlt.
2. Die Rechtsbeschwerde ist aus den Gründen der dem Betroffenen zugänglich gemachten Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. Februar 2022 offensichtlich unbegründet (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO). Der Schriftsatz des Verteidigers vom 25. Februar 2022 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass.
Die Stellungnahme der Generalstaatsanwalt nur punktuell ergänzend bemerkt der Senat:
a) Soweit die Rechtsbeschwerde einen Aktenvermerk („… nach Urteilszustellung m.d.B. um erneute Aktenübersendung nach Ablauf der Rechtsbeschwerdefrist“) so versteht, dass die Aktenübersendung zur Behinderung der Verteidigung bewusst verzögert wurde, irrt sie. Die Verfügung stammt, wie der Dienstbezeichnung des Unterzeichners zu entnehmen ist („Erster Oberamtsanwalt“), von der Amtsanwaltschaft Berlin und betrifft nicht den Akteneinsichtsantrag der Verteidigung, sondern die Aktenübersendung an die Behörde. Schon der Grundsatz der Gewaltenteilung verböte es, dass die Anklagebehörde das Gericht anweist, das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen in einer bestimmten Weise auszuüben. Erkennbar ist dies auch nicht geschehen.
b) Eine „in der Verhandlung zu Protokoll gegebene Rüge“ (Verteidigerschrift vom 25. Februar 2022) wahrt Form und Frist einer Verfahrensrüge nicht. Die Rügen sind vielmehr nach Urteilserlass in der Form und der Frist der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344, 345 StPO anzubringen.
c) Die Verteidigung irrt auch, wenn sie meint, ein Aussetzungsantrag und der darauf ergangene Beschluss seien ins Urteil aufzunehmen. Ersichtlich werden hier Urteil (§ 267 StPO) und Protokoll (§ 273 StPO) irrig vermengt. Die Aufnahme eines Aussetzungsantrags und seiner Bescheidung ins Urteil wäre überflüssig und falsch. Es ist vielmehr Aufgabe des Verteidigers, in der Rechtsbeschwerde entsprechend vorzutragen (§ 79 Abs. 3 OWiG i. v. m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). In Bezug auf die Darstellung des Rechtsmittels, die wahr und vollständig sein muss, kommt dem Protokoll positive und negative Beweiskraft zu (§ 274 StPO).
d) Das Rechtsmittel vermischt die Inbegriffsrüge, die Videoprints seien nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden, mit der Darstellungsrüge, das Urteil nehme unzulässig auf die Prints Bezug (Verteidigerschrift vom 22. Dezember 2021). Diese Vermischung verstellt dem Verteidiger den Blick auf die Voraussetzungen der beiden Rügen.
aa) Die Inbegriffsrüge (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 261 StPO) ist unzulässig (§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Zwar beanstandet das Rechtsmittel, für sich betrachtet ordnungsgemäß, der auf den Prints enthaltene Text sei nicht verlesen worden. Die Rüge muss aber darüber hinaus dartun, dass der angeblich verwertete Beweisstoff nicht anderweitig prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist (vgl. BVerfG NJW 2005, 1999; BGH wistra 1990, 197; Senat VRS 139, 213; OLG Köln NStZ-RR 1997, 367). Solchen Vortrag lässt die Rechtsbeschwerde vermissen. Darüber hinaus, dies wird hier nur informatorisch erwähnt, legen die Urteilsgründe nahe, dass der Inhalt bzw. das Ergebnis der auf den Prints ersichtlichen Buchstaben- und Zahlenfolge über den ViDistA-Auswertebericht (UA S. 3, 4) eingeführt worden ist. Die Urteilsausführungen gehen hier – ersichtlich zur Erhöhung der Transparenz und zur Überzeugung des Betroffenen – weit über das hinaus, was bei einem standardisierten Messverfahren zu erwarten ist.
bb) Von der Inbegriffsrüge (eine Verfahrensrüge) zu unterscheiden ist die Beanstandung, auf eine Abbildung sei unter Verstoß gegen §§ 46 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO und damit unwirksam verwiesen worden. Diese Sachrüge, ihre Erhebung unterstellt, bliebe aber erfolglos, weil das Urteil auch ohne den Text- und Zahlenteil der Bilder und überhaupt auch gänzlich ohne diese Bilder verständlich und nachvollziehbar wäre.
e) Die Feststellung der Fahrereigenschaft ist sachlich-rechtlich fehlerfrei. Das Amtsgericht hat den polizeilichen Zeugen geglaubt, diese hätten sich vom Täter den Führerschein zeigen lassen und anhand dessen seine Identität festgestellt (UA S. 3). Die Führerscheindaten sind zudem aktenkundig gemacht worden (UA S. 3). Ausführungen der Rechtsbeschwerde, der „Vortrag zur Fahrereigenschaft“ sei zu „bestreiten“ (Verteidigerschrift vom 25. Februar 2022 S. 3), gehen nicht nur am Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, sondern auch an den Grundstrukturen des Strafprozessrechts vorbei. Erst recht verkennen sie das Wesen der Rechtsbeschwerde.
f) Ein Großteil der weiteren Beanstandungen ist, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer gründlichen Stellungnahme zutreffend hingewiesen hat, urteilsfremd und daher unbeachtlich.“
Nun ja und mit Verlaub: So ganz viel Ahnung scheint der Verteidiger vom Rechtsbeschwerderecht nicht gehabt zu haben.
Herrje! Das BayObLG hätte sich bei einem solchen OU wohl nicht einen solchen Begründungsaufwand gemacht. 🙂