StGB I: Tötung eines Säuglings ohne Mordmerkmal?, oder: Mord oder Totschlag?

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Heute dann drei StGB-Entscheidungen. Und ich eröffne den Tag mit dem BGH, Urt. v. 08.03.2022 – 6 StR 320/21, eine vom sachverhalt „schwere“ Entscheidung. Daher überlasse ich den Sachverhalt auch dem Selbststudium.

Das LG hat den Angeklagten wegen der Tötung eines Säuglings wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Hiergegen richten sich jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft beanstandet die Verurteilung des Angeklagten lediglich wegen Totschlags. Der Angeklagte greift u.a. die Annahme eines Tötungsvorsatzes sowie die Strafzumessung an. Während das vom GBA vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft im Wesentlichen Erfolg hat, ist das des Angeklagten unbegründet.

Der BGH führt aus:

„2. Die Schwurgerichtskammer hat die Auffassung vertreten, dass die vom Angeklagten wenigstens mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführte Tat kein Mordmerkmal nach § 211 Abs. 2 StGB erfülle. Namentlich lägen keine sonst niedrigen Beweggründe vor. Zwar sei die Belastung der Beziehung des Angeklagten zur Nebenklägerin durch L. und dessen fehlende leibliche Abstammung vom Angeklagten in den Tatentschluss mit eingeflossen, allerdings nicht dergestalt, dass er sich gezielt zu einer Tötung entschlossen habe, um seine Beziehung zur Nebenklägerin von dem ihm ungeliebten „Stiefkind“ zu befreien. Hauptmotiv für die spontan begangene Tat sei vielmehr die „situativ bedingte Wut“ des Angeklagten über das Schreien des Säuglings gewesen. Gerade auch vor dem Hintergrund einer nicht von ihm zu vertretenden kombinierten Persönlichkeitsstörung erreiche dieser Beweggrund noch nicht das erforderliche Maß an Verwerflichkeit.

3. Diese Wertung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft. Die Schwurgerichtskammer hat ein Handeln im Zustand höchster Wut zugrunde gelegt und als „führendes“ Motiv gewertet. Die Urteilsgründe setzen sich hierzu nicht mit der Feststellung auseinander, dass das Verhalten des Angeklagten nicht nur beim Verlassen des Wohnzimmers, sondern auch bei seiner Rückkehr keine Auffälligkeiten aufwies. Sie folgen insofern den Bekundungen des Zeugen M. , auf den der Angeklagte unmittelbar nach der Tat sowie in der weiteren Folge einen ruhigen und gelassenen Eindruck machte. Dieser Umstand tritt indessen in erhebliche Spannung zu dem vom Landgericht für den wenige Augenblicke zurückliegenden Tatzeitpunkt angenommenen Zustand höchster Wut aufgrund persönlichkeitsbedingter Überforderung. Er wird im angefochtenen Urteil nur als etwaiger vorsatzkritischer Gesichtspunkt erörtert, nicht jedoch in Beziehung zu den Befindlichkeiten des Angeklagten während der Tat gesetzt. Dies wäre jedoch angesichts der Fülle von Beweisanzeichen geboten gewesen, die für eine von außerordentlicher Gefühlskälte geprägte Einstellung des Angeklagten gegenüber dem kindlichen Tatopfer sprechen. Sie hatte sich auch schon zuvor in Gewalthandlungen und menschenverachtenden Handlungsweisen zum Nachteil des Kindes dokumentiert. Dies in Verbindung mit dem „gelassenen“ Nachtatverhalten des Angeklagten hätte der Schwurgerichtskammer Anlass zu der Erwägung geben müssen, ob sich statt einer sehr heftigen Gemütsaufwallung nicht „führend“ die – festgestellte – feindselige Grundhaltung des Angeklagten im Verhältnis zu dem Kind in der Tat Bahn gebrochen hat. Hinzu kommt, dass der Tagesablauf keinerlei Besonderheiten aufwies, die eine Überforderungssituation des Angeklagten erklären könnten.

b) Der Generalbundesanwalt weist in seiner Zuschrift ferner mit Recht darauf hin, dass auch gegen die Ausführungen des Landgerichts zum Vorsatz durchgreifende Bedenken bestehen. Die Schwurgerichtskammer ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte „zumindest“ mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Ein Handeln in Tötungsabsicht hat es nur in Bezug auf die Frage näher geprüft, ob der Angeklagte bereits beim Verlassen des Wohnzimmers einen Tötungsentschluss gefasst haben könnte, nicht aber für den Zeitpunkt der Tat. Dies wäre jedoch angesichts der Feststellung geboten gewesen, dass der Angeklagte Mund und Nase des Säuglings wenigstens drei Minuten verdeckte und ihm zugleich sehr schwere Verletzungen am Rumpf zufügte. Aufgrund dieses höchst gefährlichen Vorgehens liegt die Annahme fern, er habe den Tod des Kindes zu diesem Zeitpunkt nicht als sichere Folge seines Handelns vorausgesehen und damit auch nicht gewollt.

Die Frage, ob der Angeklagte in Tötungsabsicht gehandelt hat, ist nicht nur für den Strafausspruch bedeutsam (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2018 – 2 StR 150/15, BGHSt 63, 54, 59 ff.), sondern auch für die Ermittlung der Beweggründe des Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2000 – 2 StR 96/00, NStZ 2001, 87). Das Landgericht hat das von ihm angenommene Nichtvorliegen einer gezielten Tötung dementsprechend im Rahmen der Prüfung niedriger Beweggründe zugunsten des Angeklagten gewertet. Der Senat kann deshalb nicht ausschließen, dass es bei Annahme von Tötungsabsicht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.“

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