Pflichti I: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: OLG Braunschweig sieht dazu keinen Anlass

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Heute dann drei Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.03.2021 – 1 Ws 12/21 –zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers, die das OLG ablehnt:

„Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt worden. Die sofortige Beschwerde ist jedoch wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos geworden und damit nunmehr mangels Beschwer unzulässig.

Im Beschwerdeverfahren ist das Fortbestehen einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts Voraussetzung für die Sachentscheidung. Die Beschwer fehlt, wenn das beanstandete Geschehen nicht mehr korrigiert werden kann oder wenn es durch die Entwicklung des Verfahrens überholt ist (KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, 1 AR 1471/053 Ws 624/05, juris, Rn. 2; KG Berlin, Beschluss vom 6. August 2009, 1 AR 1189/094 Ws 86/09, juris, Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020, 2 Ws 112/20, juris, Rn. 13; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, Rn. 7 vor § 296). Ein solcher Fall liegt hier nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs erfolgt (BGH, Beschluss vom 18. August 2020, StB 25/20, juris, Rn. 6 f.; KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, a.a.O., Rn. 2; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, 1 Ws Datum und Uhrzeit ändern 120/20, juris, Rn. 6) und dieses Ziel nach ordnungsgemäßer Durchführung des Überprüfungsverfahrens unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P als Wahlverteidiger bereits erreicht ist.

Im Gegensatz zur Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020, Ws 962 – 963/20, juris) hat sich an dieser Rechtslage auch nach der Reform durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 nichts geändert. Denn mit der Neuregelung, die die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (PKH-Richtlinie) bezweckte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu S. 20 ff. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Drucksache 19/13829) gerade kein Systemwechsel verbunden sein (OLG Hamburg, a.a.O., Rn.16). Vielmehr ergibt sich aus den Gesetzesmaterialen (S. 44 der Drucksache 19/13829) ausdrücklich, dass die sofortige Beschwerde eine fortbestehende Beschwer voraussetzt (so auch BGH, a.a.O., Rn. 8 f. [unter Hinweis auf S. 49 der Drucksache 19/13829 für die Frage der sofortigen Beschwerde nach § 143 a Abs.4 StPO] und OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Wie das Oberlandesgericht Hamburg (a.a.O., Rn.15) zutreffend ausgeführt hat, folgt auch kein anderes Ergebnis aus Art. 4 Abs.1 der PKH-Richtlinie, deren Wertungen das Oberlandesgericht Nürnberg (a.a.O., Rn. 27) ungeachtet ihres Anwendungsbereichs (dazu Art. 2 der PKH-Richtlinie) auf das Vollstreckungsverfahren übertragen hat. Die Richtlinie sieht nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von den Kosten der Verteidigung freizuhalten (OLG Hamburg, a.a.O.). Nach Art. 4 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten zwar sicherzustellen, dass die von der Richtlinie erfassten Personen über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen. Die Beiordnung bezweckt jedoch den „Zugang zu einem Rechtsanwalt“ (Art. 3 der PKH Richtlinie) und setzt deshalb gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie voraus, dass die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ ist. Ein solches Erfordernis besteht hier gerade nicht mehr, weil das Überprüfungsverfahren, das unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P ordnungsgemäß durchgeführt wurde, bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.“

M.E. falsch: Das OLG verkennt den Sinn und Zweck der PKH-Richtlinie und legitimierte das Liegenlassen von Akten usw. Man kann als Verteidiger dem nur dadurch begegnen, dass man an die Bescheidung von Beiordnungsanträgen „erinnert“, und zwar immer wieder.

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