StGB II: War das „Ausnutzen einer schutzlosen Lage“?, oder: Das muss man rein objektiv sehen….

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Die zweite Entscheidung des Tages stammt dann auch vom BGH. Der hat im BGH, Urt. v. 02.07.2020 – 4 StR 678/19 – zum Begriff der „schutzlosen Lage“ in § 177 Abs. 5 nr. 3 stGB n.F. Stellung genommen. Das LG hatte eine „schutzlose Lage“verneint und dazu folgende Feststellungen getroffen:

„I. 1. An einem Nachmittag Mitte April 2018 begab sich der Angeklagte gemeinsam mit der ihm bekannten sechs Jahre alten C. zu einem Einkaufsmarkt. Auf dem Weg dorthin lockte er das Kind unter dem Vorwand, seine Notdurft verrichten zu müssen, über eine steile, stark bewachsene Böschung hinweg auf ein im Abstand von wenigen Metern neben der Straße gelegenes, nicht einsehbares Abbruchgelände einer ehemaligen Molkerei. Er ging mit dem Mädchen in das leerstehende Gebäude hinein, zog Hose und Unterhose des Kindes herab und rieb mit seinen Fingern an dessen nackter Scheide. Als C. zu weinen begann und den Angeklagten bat, aufzuhören, forderte er sie zunächst auf, leise zu sein, und ließ schließlich von ihr ab. C. zog sich an und beide verließen den Tatort (Fall III.1. der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat das Geschehen als Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff im Sinne der § 176 Abs. 1 und § 177 Abs. 1 StGB gewertet; die Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB hat es mit der Begründung verneint, dass es an einer schutzlosen Lage und auf Seiten des Opfers an der Kenntnis der schutzlosen Lage fehle.2

Der BGH nimmt umfangreich zum Begriff der schutzlosen Lage, der nach seiner Auffassung rein objektiv zu bestimmen ist, einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedürfe es nicht und auch zum Begriff des „Ausnutzens“ im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB Stellung – die Ausführungen dazu bitte im Volltext selbst lesen. Zur Sache führt er dann aus:

„3. Gemessen hieran halten die Erwägungen, mit denen das Landgericht im Fall III.1 den Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB abgelehnt hat, rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Entgegen der Auffassung des Landgerichts bedarf es keiner nötigenden Einwirkung oder einer subjektiven Zwangswirkung der schutzlosen Lage auf das Tatopfer.

b) Soweit das Landgericht zudem das objektive Bestehen einer schutzlosen Lage mit dem Hinweis darauf verneint hat, dass „keine Anhaltspunkte“ dafür bestünden, dass der Angeklagte das abgelegene Abbruchgelände aussuchte, „um die dadurch geschaffene […] schutzlose Lage bewusst zur Begehung der Tat auszunutzen“, hat es zudem verkannt, dass der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB nicht voraussetzt, dass der Täter die Lage schutzlosen Ausgeliefertseins geschaffen hat. Die Qualifikation ist nicht auf Fälle der „Entführung“ des Tatopfers durch den Täter beschränkt. Darüber hinaus steht die im Rahmen der rechtlichen Würdigung angestellte Erwägung nicht in Einklang mit den Feststellungen; danach „lockte“ der Angeklagte das Kind unter dem – ersichtlich wahrheitswidrigen – Vorwand, seine Notdurft verrichten zu müssen, über eine Böschung hinweg, die es nicht ohne seine Hilfe zu überwinden vermochte, in das abgelegene Gebäude.

c) Soweit das Landgericht trotz der Abgelegenheit des Orts und des Umstands, dass das Opfer den Weg dorthin nicht ohne Hilfe des Angeklagten bewältigen konnte, auch deshalb Zweifel am Vorliegen einer schutzlosen Lage angemeldet hat, weil nicht habe festgestellt werden können, „ob jemand Rufe oder Schreie hätte hören und eingreifen können“, fehlt es an tragfähigen Feststellungen, dass Hilfe durch schutzbereite Dritte tatsächlich erreichbar gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 44).“

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