Fiktive Unfallschadensabrechnung, oder: Welcher Zeitpunkt ist für die Schadensberechnung maßgeblich?

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Im “Kessel-Buntes” weise ich dann heute zunächst auf das BGH, Urt. v. 18.02.2020 – VI ZR 115/19. Das ist die Revisionsentscheidung zum LG Saarbrücken, Urt. v. 01.03.2019 – 13 S 119/18, über das ich ja auch berichtet hatte (vgl. Fiktive Abrechnung, oder: Auf die Schadenshöhe zum Unfallzeitpunkt kommt es an). In dem Verfahren geht es um eine fiktive Abrechnung im Rahmen einer Unfallschadenregulierung. Die Klägerin hatte nach einem Verkehrsunfall fiktiv abgerechnet. Von der Haftpflichtversicherung war sie auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer freien Werkstatt verwiesen worden.

Das LG hatte das abgesegnet. Die Voraussetzungen für eine wirksame Verweisung seien gegeben, weil die Reparatur in der von der Versicherung genannten Werkstatt vom Qualitätsstandard her einer Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt entspreche. Umstände, die der Zumutbarkeit der Reparatur in dieser Werkstatt entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Dabei seien die Stundenverrechnungssätze dieser Werkstatt zugrunde zu legen, wie sie auch von der Beklagten in ihrer Zahlung berücksichtigt worden seien. Eine erst danach erfolgte Preiserhöhung führe zu keiner anderen Bewertung. Zwar richte sich der Zeitpunkt der Schadensbemessung eines Geldersatzanspruchs materiellrechtlich nach den Wertverhältnissen im Zeitpunkt der vollständigen Erfüllung. Werde die noch offene Forderung eingeklagt, sei verfahrensrechtlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung maßgeblich. Allerdings habe der Geschädigte eines Kfz-Unfalls entsprechend der sich aus § 254 BGB ergebenden Schadensminderungspflicht die Wiederherstellung möglichst zeitnah nach dem schädigenden Ereignis und gegebenenfalls schon vor Ablauf der dem Haftpflichtversicherer zustehenden Prüfungsfrist durchzuführen. Es erscheine daher gerechtfertigt, für die fiktive Schadensabrechnung den Geschädigten so zu stellen, wie wenn er, seiner Schadensminderungspflicht entsprechend, zeitnah die Wiederherstellung durchgeführt hätte.

Der BGH sieht das anders:

„2. Revisionsrechtlich zu beanstanden ist allerdings die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die zwischenzeitlich erfolgte Erhöhung der Preise in der Verweisungswerkstatt in die Schadensbemessung nicht einzubeziehen sei.

a) Wie im Ausgangspunkt vom Berufungsgericht zutreffend gesehen, ist der materiellrechtlich maßgebliche Zeitpunkt für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs in Geld – im Rahmen der Grenzen des Verjährungsrechts – der Zeitpunkt, in dem dem Geschädigten das volle wirtschaftliche Äquivalent für das beschädigte Recht zufließt (Senatsurteil vom 17. Oktober 2006 – VI ZR 249/05, BGHZ 169, 263 Rn. 16), also der Zeitpunkt der vollständigen Erfüllung (vgl. Senatsurteil vom 21. April 1998 – VI ZR 230/97, VersR 1998, 995, 997, juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 6. November 1986 – VII ZR 97/85, BGHZ 99, 81, 86, juris Rn. 9; Schiemann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, vor §§ 249 ff. Rn. 81; Oetker in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 314). Verfahrensrechtlich ist, wenn noch nicht vollständig erfüllt ist, der prozessual letztmögliche Beurteilungszeitpunkt, regelmäßig also der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung, maßgeblich (Senatsurteile vom 17. Oktober 2006 – VI ZR 249/05, BGHZ 169, 263 Rn. 16; vom 21. April 1998 – VI ZR 230/97, VersR 1998, 995, 997, juris Rn. 17; BGH, Urteile vom 12. Juli 1996 – V ZR 117/95, BGHZ 133, 246, 252, juris Rn. 18; vom 6. November 1986 – VII ZR 97/85, BGHZ 99, 81, 86, juris Rn. 9; vom 23. Januar 1981 – V ZR 200/79, BGHZ 79, 249, 257 f., juris Rn. 27; vom 18. Januar 1980 – V ZR 110/76, VersR 1980, 454, juris Rn. 11; Schiemann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, vor §§ 249 ff. Rn. 79; Oetker in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 317; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., S. 45). Diese Grundsätze dienen in erster Linie dem Schutz des Gläubigers gegen eine verzögerte Ersatzleistung des Schuldners. Zusätzliche Schäden und eine Verteuerung der Wiederherstellungskosten vor vollständiger Erfüllung, etwa durch Preissteigerungen, gehen deshalb in der Regel zu dessen Lasten (vgl. Senatsurteil vom 23. März 1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 239, 245, juris Rn. 22; BGH, Urteil vom 6. November 1986 – VII ZR 97/85, BGHZ 99, 81, 86, juris Rn. 9; OLG Köln, VersR 1993, 374, 375, juris Rn. 20; Schiemann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, vor §§ 249 ff. Rn. 81; Oetker in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 311; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 12 StVG Rn. 5; Zwickel, NZV 2019, 616 ff.).

Preisveränderungen erst nach vollständiger Erfüllung der Ersatzpflicht, auch wenn sie noch während des gerichtlichen Verfahrens eintreten, spielen dagegen grundsätzlich keine Rolle (Schiemann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, vor §§ 249 ff. Rn. 82; Oetker in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 314; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., S. 46).

Die genannten Grundsätze finden auch auf die Abrechnung fiktiver Reparatur- und Wiederbeschaffungskosten Anwendung, während im Fall der konkreten Schadensabrechnung auf die Umstände desjenigen Zeitpunkts abzustellen ist, in dem der Zustand im Sinne von § 249 BGB hergestellt worden ist (BGH, Urteil vom 11. Januar 1951 – III ZR 83/50, BGHZ 1, 34, 40, juris Rn. 9; Schiemann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, vor §§ 249 ff. Rn. 83; Oetker in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 315; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., S. 48). Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht daraus, dass bei fiktiver Schadensberechnung der objektiv zur Herstellung erforderliche Betrag ohne Bezug zu tatsächlich getätigten Aufwendungen ermittelt wird. Zwar disponiert hier der Geschädigte, der nicht verpflichtet ist, zu den von ihm tatsächlich veranlassten oder auch nicht veranlassten Herstellungsmaßnahmen konkret vorzutragen, dahin, dass er sich mit einer Abrechnung auf einer objektiven Grundlage zufrieden gibt (Senatsurteile vom 17. September 2019 – VI ZR 396/18, juris Rn. 9; vom 3. Dezember 2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535 Rn. 10). Hinweise der Schädigerseite auf Referenzwerkstätten dienen nur dazu, der in dem vom Geschädigten vorgelegten Sachverständigengutachten vorgenommenen Abrechnung entgegenzutreten (Senatsurteile vom 15. Juli 2014 – VI ZR 313/13, NJW 2014, 3236 Rn. 9; vom 3. Dezember 2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535 Rn. 10; vom 14. Mai 2013 – VI ZR 320/12, VersR 2013, 876 Rn. 11). Diese Loslösung des Schadensersatzanspruchs von den tatsächlich getätigten (aber nicht vorgetragenen) Herstellungsmaßnahmen und Aufwendungen ändert aber nichts daran, dass nach den oben angeführten Grundsätzen Preissteigerungen, die für eine fiktive Reparatur in der Referenzwerkstatt anfallen würden, bis zur vollständigen Bezahlung des objektiv zur Schadensbeseitigung erforderlichen Betrags (bzw. revisionsrechtlich bis zur letzten mündlichen Tatsachenverhandlung) grundsätzlich berücksichtigungsfähig sind.

b) Die materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Maßgeblichkeit der genannten Zeitpunkte für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs lässt sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht dadurch in Frage stellen, dass sich aus ihnen im Prozess die Notwendigkeit ergeben kann, einem etwaigen Vortrag zwischenzeitlicher Preisänderungen durch Beweisaufnahme nachzugehen (anders, aber wohl nur für den Fall des Preis- oder Wertverfalls, Sanden/ Völtz, Sachschadenrecht des Kraftverkehrs, 2011 Rn. 184 f.).

c) Die Ansicht des Berufungsgerichts, abweichend von den oben genannten Grundsätzen sei der Zeitpunkt des Unfallgeschehens maßgeblich für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs, weil der Geschädigte die Wiederherstellung des beschädigten Kraftfahrzeugs entsprechend der sich aus § 254 BGB ergebenden Schadensminderungspflicht möglichst zeitnah nach dem schädigenden Ereignis durchzuführen habe, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

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