OWi I: Rohmessdaten, standardisiertes Verfahren, Aussetzung, oder: Das Schrifttum hat keine Ahnung

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Heute dann den OWi-Tag der 17. Woche.

Und in die starte ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 06.04.2020 – 201 ObOWi 291/20. Der befasst sich mal wieder mit den Fragen:

  • Standardisiertes Messverfahren:
  • Beschränkung der Verteidigung nach erfolgloser Antragstellung auf Einsichtnahme in digitale Messdateien (bzw. sog. Rohmessdaten) gegenüber Verwaltungsbehörde?
  • und dem Aussetzungsantrag in Hauptverhandlung.

Das sind die Fragen mit denen sichja auch der VerfGH befasst hat und die seitdem die Rechtsprechung der OLG beschäftigen. So auch die des BayObLG (vgl. u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18; dazu: Antwort vom OLG Bamberg: Das VerfG Saarland hat keine Ahnung, oder: Von wegen der Rechtsstaat lebt).

Und auch das Schrifttum hat sich mit den Fragen befasst und ist zu anderen Ergebnissen gekommen als die Rechtsprechung der OLG. Aber das ficht die OLG nicht an, und schon gar nicht das BayObLG. Denn dort heißt es dann jetzt:

„Der gegenteiligen, mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs in Begründung und Ergebnis nicht vereinbaren Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (VerfGH des Saarlandes, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 = NZV 2018, 275 = DAR 2018, 557 = ZD 2018, 368) kann aus den bereits von dem OLG Bamberg in seiner Entscheidung vom 13.06.2018 (OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NZV 2018, 425 = DAR 2018, 573 = NStZ 2018, 724) dargelegten Gründen nicht gefolgt werden. Hieran ist auch in Ansehung der in Teilen des Schrifttums erhobenen Kritik festzuhalten.“

Das überrascht nicht (mehr), jedenfalls mich nicht. Und daher gibt es hier auch nur die – wie häufig aus Bayern leicht übedimensionierten – Leitsätze der Entscheidung:

  1. Die unterbliebene Überlassung von nicht zu den (Gerichts-) Akten gelangten Unterlagen sowie der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten oder der Messreihe stellt für sich genommen weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch einen Verstoß gegen das faire Verfahren dar. Vielmehr handelt es sich bei den entsprechenden Anträgen um Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten gerügt werden kann (Festhaltung an BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145; entgegen insbesondere VerfGH des Saarlandes, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 = NZV 2018, 275 = DAR 2018, 557 = ZD 2018, 368).
  1. Hat sich das Tatgericht aufgrund der Beweisaufnahme rechtsfehlerfrei und ohne dass sich konkrete Anhaltspunkte für Messfehler ergeben hätten, vom Vorliegen einer Messung im standardisierten Messverfahren überzeugt, kommt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines – ggf. fortwirkenden – Verstoßes gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren auch dann nicht in Betracht, wenn die Verteidigung die Einsicht in die digitale Messdatei einschließlich der Rohmessdaten schon bei der Verwaltungsbehörde verlangt, sodann einen entsprechenden Antrag erfolglos im Verfahren nach § 62 OWiG gestellt und ihr neuerlicher, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch das Tatgericht zurückgewiesen wird (Fortführung von BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145; entgegen insbesondere OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 = NStZ-RR 2019, 620 = DAR 2019, 582).
  1. Für die Annahme einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung i.S.v. § 338 Nr. 8 StPO genügt es nicht, dass die Beschränkung nur generell (abstrakt) geeignet ist, die gerichtliche Entscheidung zu beeinflussen. Vielmehr muss die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und dem Urteil konkret besteht (st.Rspr.; u.a. Anschluss an vgl. BGH, Urt. v. 26.05.1981 – 1 StR 48/81 = BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500; 23.04.1998 – 4 StR 57/98 = BGHSt 44, 82 = NJW 1998, 2296 = NStZ 1998, 584 = StV 1999, 134; 24.11.1999 – 3 StR 390/99 = NStZ 2000, 212 = BGHR StPO § 338 Nr 8 Beschränkung 6 = wistra 2000, 146 = StV 2000, 402; Beschl. v. 11.02.2014 – 1 StR 355/13 = NStZ 2014, 347 = BGHR StPO § 338 Nr 8 Akteneinsicht 3 = StV 2015, 10; 03.08. 2016 – 5 StR 289/16 bei juris und BayObLG, Beschl. v. 15.12.1997 – 2St RR 244/97 = BayObLGSt 1997, 165 = NJW 1998, 1655 = OLGSt StPO § 240 Nr 1). An einem solchen konkret-kausalen Zusammenhang zwischen der unterbliebenen Zugänglichmachung der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Romessdaten und dem Sachurteil fehlt es im Anwendungsbereich des standardisierten Messverfahrens.

Die Kritik aus Bayern wird das Schrifftum „freuen“. Und: Man weiß schon, warum man nicht vorlegt 🙂 .

5 Gedanken zu „OWi I: Rohmessdaten, standardisiertes Verfahren, Aussetzung, oder: Das Schrifttum hat keine Ahnung

  1. meine5cent

    Man weiß, warum man nicht vorlegt?
    Aber warum findet sich denn in der (angeblichen) Masse an Verfahren kein einziges, das ein engagierter Betroffener mit einem engagierten Anwalt und munitioniert durch engagierte Schrifttumsvertreter zum BVerfG statt zum LVerfG eines landkreisgroßen Bundeslandes bringt? Sei es wegen Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter wegen Nichtvorlage an den BGH oder sei es wegen der vom VerfGH Saarland gefundenen (aA die OLGs: erfundenen) Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte?

  2. RA Gahbler

    Zudem kann man nicht mal einfach so zum BVerfG; soweit es landesgesetzlich die Möglichkeit einer Individualbeschwerde gibt, geht es eben nur zum zuständigen Landesverfassungsgericht wie z. B. im Saarland. Ein engagierter Betroffener und Anwalt reichen zudem nicht aus, es muss auch ein zahlungskräftiger Betroffener sein. Die gibt es, aber reich gesät sind sie nicht; es müssen also die weiteren anhängigen Verfahren bei den Verfassungsgerichten abgewartet werden.
    Das „vorgelegt wird nicht“ bezieht sich ohnehin wohl auf den mit den Hufen scharrenden BGH, den die OLG in der Furcht vor der wohl zu erwartenden Watschen (s. Aufsätze von Cierniak) scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Nicht ohne Grund legt nicht einmal das OLG Saarbrücken, dass ja an die Entscheidung des Saarländischen VerfGH gebunden ist, nicht vor sondern stellt alle einschlägigen Verfahren ein, im Grunde ein übler Taschenspielertrick.

  3. Alexander Gratz

    Da würde ich allerdings widersprechen, Herr Kollege; die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ist gegenüber der beim Landesverfassungsgericht (anders als etwa bei Kommunalverfassungsbeschwerden: § 91 Satz 2 BVerfGG) nicht subsidiär. Sie gehört auch nicht zum zu erschöpfenden Rechtsweg. Dem Beschwerdeführer dürfte vielmehr ein Wahlrecht zustehen (oder ggf. auch die Möglichkeit, beim Bundes- und beim Landesverfassungsgericht parallel jeweils eine Verfassungsbeschwerde einzulegen), was letztlich auch aus § 90 Abs. 3 BVerfGG folgt. Dass unsere Kanzlei bislang fast ausschließlich Beschwerden bei den Landesverfassungsgerichten eingelegt hat, hatte andere Gründe.

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