Was Polizeibeamte oder AG so alles können – ein Sachverständiger hätte es wohl anders gesehen?

entnommen Wikimedia.org Urheber Federico Cantoni (Jollyroger)

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Urheber Federico Cantoni (Jollyroger)

Vor einigen Tagen habe ich vom LG Lüdinghausen das AG Lüdinghausen, Urt. v. 20.04.2015 – 19 OWi-89 Js 1431/14-139/14 – übersandt bekommen. Es geht um eine Geschwindigkeitsmessung mittels Provida-Nachfahrsystem auf einem Motorrad. Zur Auswertung der Messung (durch die Polizei) stellte das AG fest bzw. führt es aus:

„Das Gericht hat insoweit aus dem Videofilm ein Print gefertigt, dieses in Augenschein und als Bl. 71 zur Akte genommen. Gemäß § 267 Abs. 3 S. 1 StPO wird auf dieses Print Bezug genommen. Auf dem Print ist die Beschilderung deutlich zu erkennen und links neben der Beschilderung von hinten das Fahrzeug des Betroffenen etwa mittig des Bildes. Der Polizeibeamte G. hat dann versucht, dem Fahrzeug des Betroffenen mit gleich bleibendem Abstand zu folgen. Tatsächlich wurde der Betroffene jedoch schneller während dieser Verfolgung und fuhr mit einer deutlich den Umständen unangepasster Geschwindigkeit. Das Gericht hat weitere zwei Videoprints gefertigt. Das erste Videoprint ist ein solches, dass die Situation des Betroffenen zu Beginn der später anhand des Videos vorgenommenen Messung darstellt. Insoweit wird nach § 267 Abs. 3 S. 1 StPO auf das Lichtbild Bl 72 der Akte Bezug genommen. Ebenso wird Bezug genommen auf das Print Bl. 73 der Akte, das in etwa die Situation am Ende der (später festgelegten) Messstrecke darstellt. Hier ist das Betroffenenfahrzeug erkennbar kleiner abgebildet als auf dem Bild Blatt 72 der Akte. Das Betroffenen Fahrzeug war dementsprechend schneller unterwegs als das Fahrzeug der Polizei. Zudem ist erkennbar, dass der Betroffene aufgrund seiner Geschwindigkeit in der Rechtskurve, vor der er sich befindet nach links auf die Gegenfahrbahn heraus getragen wird. Auf dem ebenso in Augenschein genommenen Messvideo ergibt sich, dass ihm in der Kurve Radfahrer auf der rechten Fahrbahn entgegenkamen. Gefährdet wurden diese jedoch nicht.

Die Polizei wertet im Nachhinein die gefertigten Videos aus und bestimmt anhand einer dann im Rahmen der Auswertung festgelegten Messstrecke eine gefahrene Durchschnittsgeschwindigkeit. Es handelt sich hierbei nicht um ein standardisiertes Messverfahren, sondern eine freie Messung mit dem zur Tatzeit gültig geeichten und der Bedienungsanleitung entsprechenden Provida- System. Anhand des Wegstreckenzählers, der in das Video eingespielt wird, wurde als Messstrecke eine Strecke zwischen 59888 m und 59982 m festgelegt. Die Messstrecke war also 94 m lang. Hiervon wurde seitens der Polizei eine Toleranz von 4 m abgezogen. Die für die Geschwindigkeitsmessung dann notwendige Zeit hat das Gericht anhand der Videobilder ermittelt. Der Bildzähler wies zu Beginn 127604 Bilder aus, am Ende der Messstrecke 127710 Bilder. Für die Bildzähler-Differenz von 106 Bildern war angesichts der für ein Bild anzusetzenden Zeit von 0,04 Sekunden eine Zeit von 4,24 Sekunden als Messzeit anzusetzen. Auch hier wurde eine Toleranz abgezogen und zwar von 0,0242 Sekunden, so dass sich eine verwertbare Messezeit von 4,2642 Sekunden ergab. Aus den Zahlen ohne Toleranzabzug ließ sich dann eine Geschwindigkeit von 79,8 km/h ermitteln. Der Toleranzabzug belief sich jedoch nur auf 3,9 km/h. Notwendig war jedoch einer Toleranz von mindestens 5 km/h. Diese wurde erreicht, in dem ein weiterer Geschwindigkeitsabschlag von 1,9 km/h von den zu unter Berücksichtigung der oben genannten Toleranzwerte ermittelten Geschwindigkeit von 75,9 km/h berücksichtigt wurde. Dementsprechend wurde nur eine Geschwindigkeit von 74 km/h vorgeworfen. Für die Tat bedeutet dies eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 24 km/h.“

Für mich war diese Vorgehensweise ein wenig unkonventionell, zumal es sich ja um eine Messung in einer Kurve gehandelt hat. Ich habe daher mal „meine Sachverständigen“ von der VUT aus Püttlingen gefragt. Die haben dann wie folgt Stellung genommen:

„Über die Notwendigkeit des Sachverständigen zur Beurteilung technischer Fragestellungen.

Im Urteil zu 19OWi-89 Js 1431/14-139/14 wird durch das Gericht eine nachträgliche Auswertung einer Verfolgungsfahrt mittels eines Provida-Motorrads durchgeführt.

Interessant hieran ist, dass das Gericht in seinem Urteil darauf eingeht, dass der relevante, nachträglich ausgewertete, Streckenabschnitt in einer Kurve lag.

Die PTB als Zulassungsbehörde hat übereinstimmend in den Zulassungen der Bauformen Provida 2000 und Provida 2000modular für solche Fälle  folgendes formuliert:

„Messungen mit Schräglage dürfen nicht verwendet werden“

Dieses Verbot hat auch seinen Niederschlag in den Gebrauchsanweisungen gefunden und besteht bis zum heutigen Tage.

In einer Untersuchung in 2012 hat die PTB festgestellt, dass alleine durch die Schräglage des Messmotorrads ein Fehler von bis zu 8% auftrat. Im gleichen Artikel wurde auch konstatiert, dass dieser Effekt reifenabhängig ist. Hieraus muss geschlossen werden, dass bei abweichender Reifenkontur auch höhere Fehler auftreten können.

Dies zeigt, dass das Verbot der Verwendung solcher Messungen technisch wohl begründet ist. Aus technischer Sicht ist dies auch nicht anders zu werten, wenn durch eine nachträgliche Auswertung die Berechnung des Geschwindigkeitswertes durch das Gericht erfolgt. Das Verbot der Zulassungsbehörde bezieht sich grundsätzlich auf alle Wegstreckenmessungen und daraus folgend auch Geschwindigkeitsmessungen, da der Abrollumfang des Reifens durch Schräglage verändert wird.

Dem entsprechend basiert das hier gefällte Urteil auf einer verfälschten Messung deren Ungenauigkeiten weit außerhalb der Toleranzen der Gerätezulassung liegt.

Dies hätte durch die Prüfung des Vorgangs durch einen Sachverständigen vermieden werden können.

Hinzuweisen ist auch noch darauf, dass hier unklar bleibt warum die Auswertung innerhalb des Kurvenbereichs durchgeführt wurde. Kommend von Ahsen gibt es eine etwa 270m lange gerade Strecke bis zur im Urteil genannten Kurve und danach gibt es auf der Eversumer Straße/K9 ein etwa 1,3 km langes schnurgerades Teilstück welches sich hervorragend für eine Messung eignen würde.  

[1] – Einfluss einer Motorrad-Schräglage auf Geschwindigkeitsmessungen mit Videonachfahrsystemen.“

Also, schon erstaunlich. Erstaunlich aber auch, dass der Verteidiger das so hingenommen hat. Oder?

4 Gedanken zu „Was Polizeibeamte oder AG so alles können – ein Sachverständiger hätte es wohl anders gesehen?

  1. Purist

    In Lüdinghausen soll es ja OWi-Richter mit Promistatus geben. Vielleicht stammt der Beschluss ja daher. Lesen Sie mal den Namen unter dem Beschluss.

  2. Miraculix

    „Erstaunlich aber auch, dass der Verteidiger das so hingenommen hat“
    Ein Urteilsbegleiter?
    Oder einfach nur Ahnungslos?

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