Irgendwie passt es nicht im BGH, Beschl. v. 19.10.2011 – 1 StR 476/11: Sind es nun im 1. Strafsenat Zyniker oder verstehe ich die Argumentation nicht? Es geht um den Beginn der Belehrungspflicht des 3 136 StPO. Gegerügt war mit der Revision wohl ein zu später Übergang von der Zeugen- zur Beschuldigtenbelehrung. Und dazu dann der Senat.
„Die Rüge eines Verstoßes gegen § 136 StPO ist unbegründet. Nach pflichtgemäßer Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde muss erst dann von der Zeu-gen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen werden, wenn sich der Ver-dacht so verdichtet hat, dass die als Zeuge belehrte Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums sind – gerade bei Tötungsdelikten – erst dann überschritten, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird (BGHSt 37, 48, 51 f.; BGH, Beschluss vom 10. September 2004 – 1 StR 304/04, NStZ-RR 2004, 368) und auf diese Weise die Beschuldigtenrechte umgangen werden (BGH, Urteil vom 21. Juli 1994 – 1 StR 83/94, BGHR StPO § 136 Belehrung 6). Auch kann der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörde – zumal bei Tötungsdelikten – erst bei einem konkreten und ernsthaften Tatverdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten verpflichtet ist, für ihn auch eine schützende Funktion haben. Denn der Vernommene wird hierdurch nicht vorschnell mit einem Ermittlungsverfahren über-zogen, das erhebliche nachteilige Konsequenzen für ihn haben kann (BGHSt 51, 367, 372).
Gegen den bis dahin unbescholtenen Angeklagten, einen zur Tatzeit 48 Jahre alten, seit 1978 in Deutschland lebenden und seit 1981 bei der Stadt München angestellten türkischen Staatsangehörigen, drängte sich allein aus dem Umstand, dass er mit dem Getöteten, welcher auch in München lebte und wie er Mitglied eines türkischen Volksvereins war, kurz vor dessen Erschießung als Letzter telefoniert und ihn anschließend in seinem Pkw mitgenommen hatte, solange kein so starker Tatverdacht auf, als nicht ein Tatmotiv für die Ermittlungsbeamten offen erkennbar wurde oder mögliche Fremdeinwirkungen negativ abgeklärt waren. Hinzu kommt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der ersten Ermittlungen am 14. März 2010 ein Alibi für die Tatzeit nachweisen konnte, welches zwar falsch war, was sich aber erst am 19. März 2010 herausstellte. Außerdem wäre bei einem konkreten Tatverdacht zumindest eines Totschlags, wie es in solchen Fällen üblich ist, der Angeklagte sogleich am 14. März 2010 und nicht erst am 19. März 2010 festgenommen worden. Vielmehr ergab sich dieser Tatverdacht erst mit dem Widerruf der Aussage des Alibigebers und der damit zusammenhängenden Feststellung, dass der Angeklagte in der Nacht zum 14. März 2010, kurze Zeit nach der Tötung des Opfers, die Reifen seines Wagens wechselte und diese bis heute unauffindbar ver-schwinden ließ. Im Übrigen hat offenbar auch Rechtsanwalt S. , welcher am späten Nachmittag des 14. März 2010 noch während der Vernehmung des Angeklagten erschien und in der Folge mit ihm sprach, keine Veranlassung gesehen, ihn als Beschuldigten zu betrachten, und erklärt, dass seine Anwesenheit bei der Fortsetzung der Vernehmung nicht erforderlich sei. Daher konnte der Angeklagte am 14. März 2010, nachdem keine konkreten Beweisanzeichen gegen ihn festgestellt werden konnten, noch als Zeuge vernommen werden. …“
Wie gesagt: Für mich steckt da irgendwie ein Widerspruch drin. Die (zu) späte Belehrung des Angeklagten ist nicht zu beanstanden, da das ihn schützt? Und die vorher gemachten Angaben? Die sind vewertbar, weil er ja noch Zeuge war und zu seinem eigenen Schutz erst spät(er) nach § 136 stPO belehr werden muss.
Der Satz mit der Schutzfunktion hat der Senat in seiner eigenen Entscheidung 1 StR 3/07 abgeschrieben. Allerdings erfolgte dort die Entscheidung genau in die andere Richtung.
ich meinte, es auchs chon mal gelesen zu haben. wie das Fähnchen auf dem Turme 🙂
Noch toller ist, dass der BGH offenbar beim Tötungsdelikten auch keinen dringenden Tatverdacht mehr fordert. Ich hab nachgeguckt: In der StPO wird er noch vorausgesetzt.
@A.S.: Tut der Senat mE nicht. „Wäre festgenommen worden“ bei „konkretem Tatverdacht“ (den gibt es in der StPO auch nicht). Offenbar ist das „Übliche“, das der Senat meint, die vorläufige Festnahme nach § 127 II mit anschließendem Antrag auf Haftbefehl. Dass dieser „konkrete“ Tatverdacht zudem im vorliegenden Fall gut vertretbar ein dringender gewesen wäre, ergibt sich aus dem nächsten Satz (Wegfall des Alibis + zugleich Indiz : Beseitigen der Reifen) .
Je schwerwiegender die Tat, desto später muß belehrt werden?
Ich wage zu behaupten, daß man eine solch kühne These einem Jura-Studenten vermutlich als „kaum vertretbar“ angestrichen hätte.
Durchgestrichen/-gefallen 🙂
Ein echter Nack eben. Zynismus ist höchstform hatte ja auch sxchon der Große Senat bei seiner Entscheidung zur Rügeverkümmerung gezeigt, hinten am Ende der Entscheidung. Dort hatte es sinngemäß ausgeführt:
Die ursprünglich zulässige Revision müsse auch deswegen durch Protokollberichtigung unzulässig werden, da wegen des Beschleunigungsgebots der Justizfehler (falsches Protokoll) nicht zur Verfahrensverlängerung führen dürfe. Die nächste Stufe wäre, das zur Beschleunigung des Verfahrens die Folter wieder erlaubt wird, da bekanntlich Indizienprozesse mit schweigenden Angeklagten viel länger dauern.
Schade dass BGH-ichter unser Rechtssystem nicht kennen oder nicht akzeptieren wollen.
Sascha Petzold
Bei Herrn Nack stehen die denkwürdigen Entscheidungen seines 1. Strafsenats und die beschuldigtenfreundliche Einstellung im „Bender/Nack/Treuer – Tatsachenfeststellung vor Gericht“ in einem Mißverhältnis. Hier werden die Beschuldigtenrechte immer weiter zusammengestrichen, dort wird bemängelt, daß in Verkennung der Sach- und Rechtslage vorschnell verurteilt wird.
Na ja. Der Vorsitz des 1. Strafsenats hat sich ja bald aus Altergründen erledigt. Dann darf er sich ganz der Literatur widmen und seine eigenen Entscheidungen kritisch würdigen… 🙂
@Sascha Petzold:
Nur dumm, dass die Zyniker am Karlsruher Schlossplatz keine Verfassungswidrigkeit der Entscheidung feststellen mochten.
und was lernen wir daraus: Auch am Sclossplatz wird nur mit Wasser gekocht 🙂
Seit wann muss ich als _Zeuge_ ein (falsches) Alibi nennen? Wer über ein Alibi spricht und danach fragt, redet mit einem möglichen Täter.
Naja, der Senat betont ja eigentlich nur, dass der Beschuldigtenstatus für den Betroffenen auch negative faktische Wirkungen haben kann und dass auch dieses in der Ermessensprüfung der Staatsanwaltschaft berücksichtigt werden muss. bzw. berücksichtigt werden darf. Jedem, dem mal eine Beschuldigtenvernehmung wegen sexuellen Missbrauches von Kindern ins (Familien-)Haus geflattert ist, wird dies sicherlich gerne bestätigen.
Dass allein der Tatverdacht nicht reicht; ergibt sich im Übrigen schon aus § 55 StPO. Dabei ist es m. E. dann auch ziemlich egal, ob es sich um Ladendiebstahl oder Mord handelt. Insoweit wären diesbezügliche Klausuranmerkungen sicherlich nicht mit der wohl herrschenden Meinung vereinbar…. 🙂 Ich finde es vor dem Hintergrund des mitgeteilten Sachverhaltes im Übrigen nachvollziehbar, wenn der Senat das Unterbleiben des subjektiv erforderlichen Inkulpationsaktes nicht beanstandet. Die Staatsanwaltschaft hat nunmal einen Beurteilungsspielraum (!), der nur in Grenzen überprüfbar ist.