StGB III: Gewaltanwendung bei der Vergewaltigung, oder: Vorbeugende Verhinderung einer Gegenwehr

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Und als dritte Entscheidung dann noch einmal etwas vom BGH, nämlich das – schon etwas ältere – BGH, Urt. v. 06.12.2023 – 5 StR 203/23.

Das LG hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Dagegen die  Revision der Staatsanwaltschaft, die in beiden Fällen eine tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung erstrebt. Die Revison hatte Erfolg:

„Die Revision der Staatanwaltschaft hat Erfolg.

1. Zu Recht rügt sie, dass die Jugendkammer jeweils die Anwendung von Gewalt als Nötigungsmittel im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF verneint hat.

a) Eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ist gegeben, wenn der Täter durch eigene Kraftentfaltung das Opfer einem körperlich wirksamen Zwang aussetzt, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. April 2009 – 4 StR 88/09, NStZ-RR 2009, 202; vom 31. Juli 2013 – 2 StR 318/13, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 17). Es kommt mithin nicht darauf an, ob das Opfer des Übergriffs tatsächlich Widerstand leistet; es genügt, wenn die körperliche Zwangseinwirkung der Verhinderung von erwarteter Gegenwehr dient (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 – 4 StR 201/88, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 2; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 177 Rn. 69; insoweit missverständlich BGH vom 31. Juli 2013 – 2 StR 318/13, aaO; vgl. zur Fortgeltung dieser Maßstäbe im geltenden Recht BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 – 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312; Beschluss vom 12. Dezember 2018 – 5 StR 451/18, BGHR StGB § 177 nF Abs. 5 Gewalt 1).

b) Gemessen daran hält die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe keine Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ausgeübt, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat es seiner rechtlichen Würdigung die zutreffenden rechtlichen Maßstäbe vorangestellt, sie aber bei der konkreten Subsumtion unvollständig und zu eng gehandhabt.

aa) Die Jugendkammer hat ihre Auffassung wie folgt begründet: Nach ihren Feststellungen, die sie aufgrund der glaubhaften Schilderungen der geschädigten Mädchen getroffen hat, habe keine „gegen sie gerichtete Kraftentfaltung“ vorgelegen, die von ihnen als körperlicher Zwang „empfunden“ worden sei. Zudem habe sie keine Abwehrhandlungen festzustellen vermocht, „aus denen der Angeklagte auf einen etwaigen Widerstand hätte schließen können“.

bb) Dies erweist sich unter zwei Gesichtspunkten als rechtsfehlerhaft.

(1) Das Landgericht ist von einem zu engen Gewaltbegriff ausgegangen. Nach den Feststellungen im Fall 1 der Urteilsgründe fasste der Angeklagte die elfjährige, auf einer Couch sitzende Geschädigte R. am Oberschenkel an, hielt sie am Arm fest, entkleidete ihren Unterkörper und führte unter anderem den Geschlechtsverkehr an dem nun auf dem Rücken liegenden Mädchen aus. Im Fall 2 der Urteilsgründe hat die Jugendkammer festgestellt, dass der Angeklagte die zwölfjährige Geschädigte S. auf eine am Boden des Fabrikgebäudes liegende Tür legte, ihre Beine spreizte, sich auf sie legte und dann mit seinem Glied in ihre Scheide eindrang. Handlungen wie das Festhalten eines Armes des Opfers unmittelbar vor dem sexuellen Übergriff, das Auseinanderdrücken der Beine oder der Einsatz überlegener Körperkraft (etwa durch das Legen des Opfers auf den Rücken) können im Einzelfall Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF darstellen; das Gleiche gilt, wenn der Täter sich mit seinem Körpergewicht auf das Opfer legt (vgl. BGH, Urteile vom 10. Februar 2011 – 4 StR 566/10, NStZ 2011, 456, 457; vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 43; vom 15. Juli 2020 – 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312). Soweit das Landgericht in der rechtlichen Würdigung ausgeführt hat, die geschädigten Mädchen hätten die Handlungen des Angeklagten nicht als körperlichen Zwang „empfunden“, handelt es sich um eine Wertung, für die es an einer ausreichenden Feststellungsgrundlage fehlt. Mangels einer genaueren Schilderung des Verhaltens sowohl des Angeklagten als auch der Geschädigten ist dem Senat eine Überprüfung verwehrt, ob die Jugendkammer im Ergebnis zu Recht eine von den Handlungen des Angeklagten ausgehende Zwangseinwirkung auf die Opfer verneint hat.

(2) Die Ausführungen des Landgerichts lassen außer Betracht, dass es genügen kann, wenn der Täter die Gewalthandlungen im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF vornimmt, um von ihm erwarteten Widerstand des Opfers zu begegnen, wenn die körperliche Zwangseinwirkung dazu dient, eine mögliche Gegenwehr (vorbeugend) zu verhindern. Die Jugendkammer hat ihre Auffassung damit begründet, dass sich die Geschädigten weder gegen den sexuellen Übergriff gewehrt noch sich währenddessen geäußert haben. Mit der Möglichkeit, dass der Angeklagte mit seiner Kraftentfaltung gegen die Geschädigten einen von ihm erwarteten Widerstand vorbeugend unterbinden wollte, hat sich das Landgericht indes nicht auseinandergesetzt. Mangels näherer Schilderung des Verhaltens des Angeklagten und der Geschädigten kann der Senat nicht nachprüfen, ob der Angeklagte mit dieser Intention handelte. Eine genauere Erörterung dieser Frage wäre umso mehr angezeigt gewesen, als der Angeklagte vor der ersten Tat seinen Bruder aus dem Zimmer schickte, die Geschädigte R.    angegeben hat, sie habe sich wehren und den Angeklagten wegdrücken wollen, und die Geschädigte S.         neben Schmerzen auch bekundet hat, dass sie „wie gelähmt“ und „ihre Muskeln … wie eingefroren“ gewesen seien, sie wie „in Schockstarre verfallen gewesen“ sei.“

StGB II: Schwerer Raub oder besonders schwerer Raub?, oder: Einsatz des Messers zur Beuteerzielung?

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Und als zweite Entscheidung dann eine BGH-Entscheidung, und zwar der BGH, Beschl. v. 28.02.2024 – 5 StR 23/24.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung veurteilt. Insoweit hatte die Revision Erfolg.

„1. Im Fall II.2 der Urteilsgründe hält die Verurteilung wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Nach den Urteilsfeststellungen veranlassten der Angeklagte und drei Mittäter den Geschädigten P., am 30. April 2020 gegen 22.30 Uhr in das Auto eines seiner Tatgenossen zu steigen, um eine Streitigkeit im Zusammenhang mit dem Abschluss von Mobilfunkverträgen zu klären. Während der Fahrt schlug der Angeklagte den Geschädigten mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf, während einer der anderen Mitfahrer ihn am Hals ergriff. Die Fahrzeuginsassen forderten P.    auf, ihnen seine Geldbörse nebst Geldkarte auszuhändigen und die dazugehörige PIN zu nennen. Dem kam der Geschädigte infolge der Misshandlungen nach. Anschließend fuhren sie zu einem Geldautomaten, an dem der Angeklagte und einer seiner Mittäter gegen 22.50 Uhr 1.000 Euro vom Konto des Geschädigten abhoben. Sie wussten, dass sie keinen Anspruch auf das Geld hatten.

Danach fuhren sie in ein Waldstück, ließen den Geschädigten aussteigen, schlugen ihn mehrfach ins Gesicht und zwangen ihn, sich auszuziehen. Der Angeklagte hielt ihm ein Klappmesser vors Gesicht und drohte ihm, ein Auge auszustechen und seine Schwester zu vergewaltigen, falls er zur Polizei gehe. Einer der Mittäter schlug dem Geschädigten mit einem Gürtel mehrfach auf die Hände. Kurz nach Mitternacht fuhren sie zurück und versuchten vergeblich, ein weiteres Mal Geld vom Konto des Geschädigten abzuheben. Anschließend setzten sie P.    in der Nähe seines Wohnortes ab.

b) Der Schuldspruch wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung hat keinen Bestand, weil die Feststellungen den vom Landgericht angenommenen Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht tragen.

aa) Die Qualifikation nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter bei der Tat eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug verwendet. Das Tatbestandsmerkmal des Verwendens umfasst jeden zweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatmittels. Das Verwenden bezieht sich auf den Einsatz des Nötigungsmittels zur Verwirklichung des Erpressungstatbestands. Es liegt danach vor, wenn der Täter eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mittel entweder der Ausübung von Gewalt gegen eine Person oder der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gebraucht, um den Geschädigten zu einer Vermögensverfügung im Sinne des § 253 Abs. 1 StGB zu nötigen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2020 – 3 StR 5/20, BGHR StGB § 250 Abs. 2 Nr. 1 Verwenden 12). Wird die Waffe oder das andere gefährliche Werkzeug erst nach Vollendung der Erpressung, aber vor deren Beendigung verwendet, ist es wenigstens erforderlich, dass das Tatwerkzeug als Mittel zur Sicherung der Tatbeute eingesetzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2008 – 5 StR 445/08, BGHSt 52, 376, 378; vom 8. Juli 2008 – 3 StR 229/08; NStZ-RR 2008, 342, 343).

bb) Gemessen daran wird ein Verwenden einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges bei der Erpressungstat nicht von den Feststellungen getragen. Als der Angeklagte und seine Mittäter den Geschädigten nötigten, seine Geldkarte auszuhändigen und die dazugehörige PIN zu offenbaren, setzten sie lediglich einfache körperliche Gewalt ein; eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug verwendeten sie hierzu nicht. Nach Vollendung der räuberischen Erpressung mit dem Nötigungserfolg dergestalt, dass der Geschädigte infolge der Misshandlungen die Geldkarte aushändigte und die PIN offenbarte (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 17. August 2004 – 5 StR 197/04, BGHR StGB § 253 Abs. 1 Vermögensschaden 12), verwendete der Angeklagte zwar ein Klappmesser als Drohmittel und ein Mittäter einen Gürtel als Schlagwerkzeug. Insoweit lässt sich dem Urteil aber – auch in seinem Gesamtzusammenhang – nicht entnehmen, dass der Einsatz der gefährlichen Werkzeuge von einer Bereicherungs- oder wenigstens einer Beutesicherungsabsicht getragen war. Vielmehr diente deren Verwendung nach den getroffenen Feststellungen dazu, den Geschädigten von einer Anzeige bei der Polizei abzuhalten.

cc) Es bedarf daher erneuter Prüfung und Entscheidung, ob der Angeklagte den Qualifikationstatbestand des besonders schweren Raubes nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB oder lediglich den des schweren Raubes nach § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB durch das Beisichführens des Klappmessers verwirklicht hat. Der Rechtsfehler nötigt auch zur Aufhebung der für sich genommen rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen der tateinheitlich verwirklichten Delikte des erpresserischen Menschenraubes und der gefährlichen Körperverletzung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO); sie können um solche ergänzt werden, die den bisher getroffenen nicht widersprechen.“

StGB I: Falsche „Impfbescheinigung“, aber zu Masern, oder: Unrichtiges Gesundheitszeugnis

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Und dann auf in den Wonnemonat (?) Mai. Heute hier mit StGB-Entscheidungen.

Ich beginne mit einer Entscheidung zum „Impfen“, und zwar noch einmal zu Impfbescheinigungen, allerdings nicht zu Corona/Covid 19, sondern zu einer Masernimpfung, die verweigert worden ist. Dazu stelle ich das OLG Celle, Urt. v. 09.04.2024 – 2 ORs 29/24  vor. Für dieses reichen m.E. aber die Leitsätze, da wir die Problematik ja auch bei Corona hatten und das dort eingehend erörtert worden ist. Die Leitsätze lauten:

1. Eine individualisierte, ärztlich ausgestellte (vorläufige) Impfunfähigkeitsbescheinigung ist ein Gesundheitszeugnis im Sinne des § 278 StGB.

2. Unrichtig im Sinne des § 279 StGB ist das Gesundheitszeugnis bereits dann, wenn die miterklärten Grundlagen der Beurteilung in einem wesentlichen Punkt nicht der Wahrheit entsprechen. Dies ist in der Regel dann gegeben, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche ärztliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde.

3. Für eine Strafbarkeit nach § 279 StGB ist es hingegen nicht erforderlich, dass das Gesundheitszeugnis eine unwahre Aussage über den Gesundheitszustand als solchen enthält (abweichend: BayOLG, Urteil vom 18.07.2022, Az. 2 StR 179/22).

Rechtsfolge III: Ist Betroffener Fahrerlaubnisinhaber?, oder: Keine „vorsorgliche“ Fahrerlaubnisentziehung

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Und dann noch etwas zu den Nebenfolgen, und zwar Entziehung der Fahrerlaubnis. Im LG Mönchengladbach, Beschl. v. 28.03.2024 – 24 Qs 34/24 – geht es zwar um eine vorläufige Entziehung nach § 111a StPO. Aber die entschiedene Frage hat/hätte auch Bedeutung, wenn es um die endgültige Entziehung geht.

Das AG hat die Fahrerlaubnis (vorläufig) entzogen. Dagegen die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„Sowohl die vorläufige als auch die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO bzw. § 69 StGB setzen voraus, dass der hiervon Betroffene eine Fahrerlaubnis hat. Dies gilt auch dann, wenn es um die (vorläufige) Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis nach § 1 I la Abs. 3 S. 2, Abs. 6 StPO und § 69b StGB geht. Eine „vorsorgliche“ Entziehung der Fahrerlaubnis beim Vorliegen eines auch nur vagen Verdachts, der Täter könne im Besitz einer ausländischen Fahrerlaubnis sein, ist nicht zulässig (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 23.10.2010 – 5 Ss 471/10 -, Rn. 9, juris; Berz/Burmann StraßenverkehrsR-I-IdB, 16. A. Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Strafgerichte Rn. 301, beck-online). Diese Konstellation ist vergleichbar mit der Situation, dass der Betroffene nicht mehr im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, weil ihm diese bereits vorher (z.B. im Verwaltungswege) entzogen worden ist. Auch in diesem Fall ist eine vorläufige Maßnahme nach § 111a StPO unzulässig (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 21.06.1999 – 1 AR 681/993 Ws 315/99 -, juris).

So ist es hier: Der einzige Anhaltspunkt für eine ausländische Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers ergibt sich aus der VIVA Personenabfrage der Polizei, in der es heißt, der Beschwerdeführer habe einen Führerschein unter seinen Aliaspersonalien pp. Österreich, österreichischer Staatsangehöriger“ vorgelegt (B. 82 f. GA). Die Daten stammen aus unbekannter Quelle aus dem polizeilichen Informationssystem INPOL. Der Beschwerdeführer bestreitet, im Besitz einer (deutschen oder ausländischen) Fahrerlaubnis zu sein. Weiterführende, die Annahme einer österreichischen Fahrerlaubnis aufklärende Ermittlungen haben bisher nicht stattgefunden. Damit ergeben sich allenfalls vage Verdachtsmomente, die die angeordnete vorläufige Entziehung nicht zu stützen vermögen.

Sollten weitere Ermittlungen (z.B. über Verbindungsbeamte zur österreichischen Polizei oder im Wege der Rechtshilfe) ergeben, dass der Beschwerdeführer im Besitz einer deutschen, österreichischen oder sonstigen ausländischen Fahrerlaubnis ist, so wird über die Frage der vorläufigen Entziehung nach § 111a StPO erneut zu entscheiden sein. Am Vorliegen der weiteren, vom Amtsgericht detailliert und zutreffend geprüften, Voraussetzungen einer vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung nach § 111a StPO hat auch die Kammer nach gegenwärtiger Aktenlage keine Zweifel. Darüber hinaus dürfte sich nach gegenwärtiger Aktenlage – der Anfangsverdacht eines vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 StVG ergeben.“

Rechtsfolge II: Strafrahmenwahl/konkrete Zumessung, oder: Gesamtwürdigung fehlerhaft

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Und dann noch eine Entscheidung zur Strafzumessung, aber nichts vom BGH, sondern der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.02.2024 – 1 ORs 340 SRs 86/24. Über den Beschluss habe ich schon einmal berichtet, und zwar wegen der „beA-Frage“ (s. hier: beA II: beA/elektronisches Dokument im Strafrecht, oder: Wiedereinsetzung, Ersatzeinreichung, Email ).

Nun also noch einmal wegen der Strafzumessung. Das AG hatte den Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Bandencomputerbetrugs in 305 Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 10 Fällen und versuchten gewerbsmäßigen Bandencomputerbetrugs in 58 Fällen unter Einbeziehung der Strafe von einem Jahr und 6 Monaten aus einem Urteil des AG Frankfurt am Main zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten. Die gegen dieses Urteil vom Angeklagten eingelegte Berufung hat das LG verworfen, wobei es die Gesamtfreiheitsstrafe auf 2 Jahre und 10 Monate reduzierte.

Nach den Feststellungen des LG schloss sich der Angeklagte mit drei weiteren Personen im Jahr 2015 zusammen, um künftig organisiert und arbeitsteilig Krankenkassen betrügerisch zu schädigen und auf diese Weise dauerhaft Einnahmen zu erwirtschaften. Nach dem „Geschäftsmodell“ gründeten die Mitglieder der Gruppierung zwischen 2015 und 2018 eine Vielzahl von oft nur kurze Zeit existierenden Scheinfirmen, bei welchen fiktive Arbeitnehmer zu einem Monatsgehalt zwischen 3.400,- EUR und 5.600,- EUR eingestellt und bei verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen (pflicht)versichert wurden. Mit den von den Kassen auf die nichtexistierenden Arbeitnehmer ausgestellten Ausweisen konsultierten Mitglieder der Gruppierung verschiedene Ärzte und erwirkten bei diesen unter dem Namen der Scheinmitarbeiter die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Diese reichten sie bei den Krankenkassen ein und erlangten in 305 Fällen im vollautomatisierten Verfahren Aufwendungsersatzleistungen nach dem AAG, Wobei es in weiteren 58 Fällen beim Versuch geblieben sein soll, da die Erstattung durch Verrechnung mit den Beitragsforderungen erfolgte. In 10 Fällen erlangte die Gruppierung Krankengeld, dessen Auszahlung nicht automatisiert, sondern durch Verfügung der Sachbearbeiter der Krankenkassen erfolgte. Auf diese Weise erwirtschaftete die Gruppierung insgesamt mehr als 391.000,- EUR.

Das OLG beanstandet die tatsächlichen Feststellungen als lückenhaft. Zur Strafzumessung heißt es dann:

„2. Auch die Rechtsfolgenentscheidung weist durchgreifende Rechtsfehler auf. Sowohl die Ausführungen des Landgerichts zur Strafrahmenwahl wie auch im Rahmen der konkreten Strafzumessung lassen besorgen, dass das Gericht die erforderliche Gesamtwürdigung nicht in rechtsfehlerfreier Weise vorgenommen hat, weil ein wesentlicher die Taten prägender Gesichtspunkt erkennbar nicht berücksichtigt wurde, zudem in rechtsfehlerhafter Weise Umstände zu Lasten des Angeklagten in die Abwägung eingeflossen sind.

Bei der Prüfung eines minderschweren Falles gem. § 263 Abs. 5 S. 1 2. Alt. StGB und auch – nach dessen Verneinung – bei der konkreten Strafzumessung hat die Kammer zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er die Taten über einen langen Zeitraum und mit einem sehr hohen Gesamtschaden begangen hat, wobei dieser noch in voller Höhe bestehe und nicht einmal teilweise wiedergutgemacht worden sei. Diese Erwägungen lassen nicht nur besorgen, dass dem Angeklagten rechtsfehlerhaft (vgl. Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 57i) das Fehlen eines Milderungsgrundes (Schadenswiedergutmachung) angelastet wurde, sondern auch, dass entgegen § 46 Abs. 3 StGB die Gewerbsmäßigkeit seines Vorgehens als ein die Qualifikation des § 263 Abs. 5 StGB begründendes Merkmal zu seinen Lasten berücksichtigt wurde. Zwar können bei der Strafzumessung Abstufungen bei den Tatbestands- bzw. Qualifikationsmerkmalen nach der individuellen tatschuld vorgenommen werden. Doch hat die Kammer nicht bedacht, dass die gewerbsmäßig begangenen Taten Bestandteil einer Tatserie waren (dieser Aspekt findet lediglich bei der Gesamtstrafenbildung Erwähnung), weshalb eine sinkende Hemmschwelle zu einer Verminderung des Schuldgehalts der Folgetaten führen kann (BGH Urt. v. 20.7.2016 – 2 StR 18/16, NStZ-RR 2016, 368; BGH Urt. v. 28.3.2013 – 4 StR 467/12, BeckRS 2013, 6623), auch wenn diese über einen langen Zeitraum begangen werden. Die Fortsetzung gleichförmig ausgeführter, nicht notwendig von vornherein geplanter Serienstraftaten in großer Zahl und über einen längeren Zeitraum ist daher nicht stets als Hinweis auf eine erhöhte bzw. sich steigernde krimineller Energie zu verstehen. Für eine Herabsetzung der Hemmschwelle des Angeklagten spricht, dass dieser – nach Auffassung der Kammer glaubhaft – bekundet hat, das Ganze sei schleichend immer größer geworden. Als sie gesehen hätten, wie einfach das gegangen sei, hätten sie weitergemacht. Es habe genug Ärzte gegeben, die mit Krankmeldungen schnell dabei gewesen seien, sie seien überrascht gewesen, wie das so einfach funktioniert habe.

Im Übrigen muss die Zumessung der Einzelstrafen bezogen auf das jeweilige durch das begangene Delikt verwirklichte Unrecht erfolgen. Dabei hätte insbesondere die Höhe der Einzelschäden in den Blick genommen werden müssen. Dies ist offensichtlich nicht geschehen, da die Kammer die Einzeltaten durch Festsetzung von Einzelstrafen in identischer Art und Höhe – festgesetzt wurden Einzelfreiheitsstrafen von je einem Jahr und zwei Monaten für die vollendeten Fälle und 58 Einzelgeldstrafen von je 120 Tagessätzen zu je 60,-€ für die versuchten Fälle – „über einen Kamm gebürstet“ hat ohne zu berücksichtigen, dass die Schäden teilweise (wie etwa im Fall 17 mit 67,09 €) im nur zweistelligen, teilweise (wie etwa im Fall 22 mit 7.349,17 €) im vierstelleigen Bereich liegen.

Auch hat die Kammer nicht bedacht, dass die Würdigung der Gesamtheit der Taten bei Bemessung der Einzelstrafen keine Rolle spielt, sondern erst auf der Ebene der Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen ist (BGH Beschl. v. 18.7.2023 – 2 StR 423/22, NStZ-RR 2024, 9). Deshalb hätte die Kammer bei der Strafrahmenfindung und der konkreten Strafzumessung nicht auf den verursachten Gesamtschaden von über 391.000,-€ abstellen dürfen.“