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Wann besteht eine ernsthafte lokale Glättegefahr?, oder: Winterliche Streu- und Räumpflicht

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Im Kessel Buntes am Samstag heute zwei zivilrechtliche Entscheidungen.

Zunächst stelle ich das KG, Urt. v. 06.12.2022 – 21 U 56/22 – vor. Das befasst sich – der Jahreszeit angemessen – mit der winterlichen Streupflicht. Grundlage ist folgender Sachverhalt:

Die am 1951 geborene Klägerin erlitt am Samstag, den 19.12.2020, gegen 11.00 Uhr eine Quadrizepssehnenruptur am rechten Bein. Unmittelbar nach ihrer Verletzung wurde sie in der D-Klinik Berlin aufgenommen und am 20. Dezember 2020 operiert. Sie blieb bis zum 27. Dezember 2020 in stationärer Behandlung. Der weitere Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig, die Klägerin war zumindest bis November 2021 arbeitsunfähig krank geschrieben.

Der Träger der D-Klinik, die Z GmbH, übertrug die Verkehrssicherungspflicht während der Winterdienstsaison auf dem Krankenhausgelände mit einem Vertrag über Winterdienstleistungen aus dem Oktober 2015 der Beklagten zu 2). Die Klägerin behauptet, zu ihrer Verletzung sei es wie folgt gekommen:

Sie habe sich am Tag ihres Unfalls gegen 11.00 Uhr zur D-Klinik in der S-Straße in Berlin begeben, um sich dort einem Coronatest zu unterziehen. Die Wege auf dem gesamten Gelände seien infolge von Glatteis sehr rutschig und nicht gestreut gewesen. Außerdem habe an dem Tag in Berlin allgemeine Glätte geherrscht. Als sie über das Gelände gegangen war und das auf dem Klinikgelände befindliche Corona-Testzentrum erreicht hatte, sei sie dort abgewiesen worden, da dieses samstags geschlossen war. Sie habe sich deshalb auf den Rückweg gemacht. Noch auf dem Klinikgelände sei sie auf einem Gehweg ausgerutscht und gestürzt. Es habe in diesem Bereich für sie keine Möglichkeit gegeben, den rutschigen Gehweg zu verlassen. Sie habe sofort Schmerzen im rechten Bein gespürt und habe nicht mehr aufstehen können, nur mit Unterstützung hinzukommender Personen habe sie sich auf eine Bank setzen können. Sie sei dann zur Untersuchung ihrer Verletzung wieder in das D-Krankenhaus gebracht worden, wo dann die Quadrizepssehnenruptur festgestellt und behandelt wurde.

Wegen dieser Verletzung hat die Klägerin vor dem Landgericht Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld erhoben. Die Beklagten haben insbesondere bestritten, dass am Tag des Unfalls in Berlin allgemeine Glätte geherrscht habe. Das LG hat die Klage gegen beide Beklagte abgewiesen. Die zulässige Berufung hatte teilweise Erfolg. Zum Grund des Anspruchs führt das KG aus:

„a) Die Beklagte zu 2) war im Winterhalbjahr, also auch am Tag des Unfalls der Klägerin, streu- und räumpflichtig auf dem Gelände der D-Klinik Berlin. Denn die primär verkehrssicherungspflichtige Person, die Trägerin der Klinik, hatte ihr diese Pflicht im Oktober 2015 mit einem Winterdienstvertrag (Anlage B 1 – 2) übertragen. Mit einer solchen Übertragung wird der Übernehmer der Pflichten für ihre Einhaltung selbst deliktisch verantwortlich (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07w.N.; Sprau in: Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage, 2022, § 823 BGB, Rn. 50 und 215 m.w.N.).

b) Die Beklagte zu 2) hat die von ihr auf dem Klinikgelände übernommene Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem sie rutschige Glatteisflächen auf den dortigen Wegen zur Zeit des Unfalls der Klägerin nicht gestreut hatte.

aa) Eine solche Streupflicht besteht für den Verkehrssicherungspflichtigen auch im Winterhalbjahr nicht jederzeit, sondern nur wenn entweder allgemeine Glätte herrscht oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jedenfalls im Bereich der Flächen, auf die sich die Verkehrssicherungspflicht bezieht, aufgrund vereinzelter Glättestellen eine ernsthaft drohende Gefahr für Dritte besteht (im Folgenden: ernsthafte lokale Glättegefahr, vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 2017, VI ZR 254/16; Urteil vom 12. Juni 2012, VI ZR 138/11).

Im vorliegenden Fall kann die zwischen den Parteien umstrittene Frage dahinstehen, ob in Berlin oder in Berlin-K im Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin eine allgemeine Glätte herrschte. Denn nach Abschluss der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die Beklagte zu 2) zu dieser Zeit auf dem Klinikgelände streupflichtig war, weil dort jedenfalls eine ernsthafte lokale Glättegefahr bestand.

bb) Wann eine Streupflicht unabhängig vom Vorliegen einer allgemeinen Glätte aufgrund einer ernsthaften lokalen Glättegefahr besteht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Entscheidend sind insbesondere die Lage und Größe der örtlichen Glättestellen, der Zeitpunkt ihres Auftretens und die Wahrscheinlichkeit ihres Fortbestands in Anbetracht der herrschenden Temperatur. Zudem ist zu beachten, dass eine örtlich auftretende Glättegefahr, die eine Streupflicht auslöst, in aller Regel keine sofortige Reaktion des Verpflichteten verlangt, sondern dass diesem eine den Umständen angemessene Reaktionszeit zuzubilligen ist (BGH, Urteil vom 12. Juni 2012, VI ZR 138/11).

Bei dieser Prüfung des Einzelfalls kommt es allerdings in jedem Fall auf den Pflichtenmaßstab an, der an denjenigen zu stellen ist, der den Verkehr auf den in Rede stehenden Flächen eröffnet hat, also den primär Verkehrssicherungspflichtigen. Hat dieser die Räum- und Streupflicht auf einen Dritten übertragen, der aufgrund dieser Übertragung selbst deliktisch verantwortlich wird (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07, Rn. 9), muss sich dieser Dritte am Maßstab des primär Verkehrssicherungspflichtigen messen lassen. Denn durch die Übertragung wird der primär Verkehrssicherungspflichtige von seinen Pflichten weitgehend befreit, sie verengen sich auf Kontroll- und Überwachungspflichten (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07, Rn. 9). Deshalb würde die Übertragung der Streupflicht im Ergebnis den deliktischen Schutz der Personen, die in ihren Schutzbereich fallen, verkürzen, wenn für den Übernehmer nicht derselbe Pflichtenmaßstab wie für den primär Sicherungspflichtigen gilt. Aus Sicht des Senats verbietet sich diese Konsequenz.

Bei der Prüfung der Frage, ob eine ernsthafte lokale Glättegefahr besteht, ist es regelmäßig von Bedeutung, wann der Streupflichtige ernsthafte örtliche Gefahrenstellen hätte wahrnehmen müssen. Der primär Verkehrssicherungspflichtige, der vor Ort den Verkehr auf bestimmten Flächen eröffnet, ist typischerweise deutlich früher in der Lage, derartige Gefahrenstelle wahrzunehmen als ein sekundär streupflichtiger Winterdienstleister. So kann es sein, dass ein Winterdienstleister seine Mitarbeiter üblicherweise nur an Tagen mit allgemeiner Glätte zu Räum- und Streudiensten losschickt und es für ihn einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutete, wenn er auch an Wintertagen ohne allgemeine Glätte das Gebiet, das er mit seinen Dienstleistungen abdeckt, vorsorglich auf ernsthafte lokale Glättegefahren hin absucht. Dieses Vorgehen eines Winterdienstleisters, der eine Streu- und Räumpflicht übernommen hat, ist nachvollziehbar, kann ihn aber nicht mit deliktischer Wirkung von seiner Streupflicht entlasten, denn sonst würde sich durch die Übertragung dieser Pflicht an einen Dritten der Schutzstandard für die geschützten Personen im Endergebnis verringern.

Dieses Ergebnis ist auch nicht unbillig für einen Winterdienstleister. Er kann das hieraus resultierende Haftungsrisiko durch die vertragliche Gestaltung seiner Winterdienstverträge ausschließen oder jedenfalls weitgehend reduzieren. Dazu muss dort eine Regelung aufgenommen werden, wonach der primär Streupflichtige, wenn er an einem Tag, an dem keine allgemeine Glätte herrscht, eine ernsthafte lokale Glättegefahr vor Ort wahrnimmt, den Winterdienstleister hierüber informieren muss und der Dienstleister erst innerhalb eines gewissen Zeitabstands verpflichtet ist, auf diesen Hinweis seine Dienste vor Ort zu erbringen. Auch im vorliegenden Fall enthält der Winterdienstvertrag, mit dem die Beklagte zu 2) beauftragt ist, in § 2 Abs. 2 eine Regelung, mit der offenbar dieses Ziel verfolgt wird, wenngleich sie vielleicht nicht vollständig ausformuliert ist.

cc) Nach Abschluss der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Wege auf dem Gelände des D-Klinikums Berlin am 19. Dezember 2020 jedenfalls seit ca. 9.00 Uhr bis zum Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin gegen 11.00 Uhr weitgehend, also über längere Strecken hinweg, vereist und deshalb sehr rutschig waren, sodass man dort als Fußgänger leicht ausgleiten und hinfallen konnte…….“