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Erst Pflichtverteidiger-, dann Wahlanwaltsgebühren, oder: Gesamtanrechnung, ohne „Rosinentheorie“

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Heute ist zwar Karfreitag und damit Feiertag, ich will dann aber doch – wie immer am Freitag – zur RVG-Thematik posten. Aber, da Feiertag ist, gib es nur eine RVG-Entscheidung und die auch später als üblich.

Hier dann also der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.01.2021 – III-2 Ws 267/20. Nach dem Sachverhalt war Rechtsanwalt war in dem Loveparade-Verfahren als einer der Pflichtverteidiger des früheren Angeklagten bestellt. Das LG hat dann ja das Verfahren gegen den früheren Angeklagten nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt und angeordnet, dass die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last fallen.

Der Rechtsanwalt hat als Pflichtverteidiger Terminsgebühren in Höhe von 60.928 EUR (netto) aus der Staatskasse erhalten. Ferner ist ihm anstelle der gesetzlichen Grund- und Verfahrensgebühren (Nr. 4100, 4104, 4112 VV RVG) gemäß § 51 RVG eine Pauschgebühr in Höhe von 70.000 EUR (netto) bewilligt und ausgezahlt worden.

Aus abgetretenem Recht des früheren Angeklagten hat der Rechtsanwalt dann als Differenzgebühr eines Wahlverteidigers für 182 Verhandlungstage zusätzliche Terminsgebühren von jeweils 304 EUR (netto), d. h. rechnerisch insgesamt 55.328 EUR (netto) zur Festsetzung gegen die Staatskasse angemeldet. Ferner hat er für den letzten Verhandlungstag, den er nicht als Pflichtverteidiger abgerechnet hat, aus abgetretenem Recht des früheren Angeklagten einen Betrag von 560 EUR (netto) als Terminsgebühr eines Wahlverteidigers sowie Auslagen zur Festsetzung gegen die Staatskasse angemeldet. Die Rechtspflegerin des LG hat antragsgemäß gegen die Staatskasse festgesetzt. Gegen diesen Festsetzungsbeschluss richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatskasse, nach deren Auffassung der geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht besteht, da die Pflichtverteidigergebühren insgesamt anzurechnen seien. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

“ 1. Dem früheren Angeklagten B. stand aus der dem Grunde nach getroffenen Kosten- und Auslagenentscheidung der Strafkammer (§ 467 Abs. 1 StPO) der Höhe nach kein Anspruch auf Erstattung von Wahlverteidigergebühren gegen die Staatskasse zu, da die insgesamt gezahlten Pflichtverteidigergebühren die Wahlverteidigergebühren (weit) übersteigen. Demgemäß kann der Zessionar Rechtsanwalt A. den geltend gemachten Erstattungsanspruch nicht aus abgetretenem Recht herleiten.

Ein gegen die Staatskasse gerichteter Erstattungsanspruch des früheren Angeklagten B. konnte nur in dem Umfang bestehen, in dem Rechtsanwalt A. als Pflichtverteidiger von dem Mandanten die Zahlung der Gebühren eines gewählten Verteidigers verlangen konnte. Der Anspruch gegen den Mandanten ist indes nach § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG insoweit entfallen, als die Staatskasse Gebühren an den Pflichtverteidiger gezahlt hat.

Der Sinn dieser Regelung besteht darin, dass der Pflichtverteidiger von dem Beschuldigten nicht mehr erhalten soll als ein Wahlverteidiger (vgl. OLG Jena Rpfleger 2010, 107 = BeckRS 2009, 86298; Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl. 2017, § 52 Rdn. 30; Kroiß in: Mayer/Kroiß, RVG, 7. Aufl. 2018, § 52 Rdn. 30). Anzurechnen sind alle aus der Staatskasse gezahlten Pflichtverteidigergebühren, wozu auch eine Pauschgebühr nach § 51 RVG zählt (vgl. OLG Köln JurBüro 2002, 595 = Rpfleger 2003, 97; Burhoff in: Gerold/ Schmidt, RVG, 24. Aufl. 2019, § 52 Rdn. 15).

Um den Zweck des § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG zu erreichen, dass ein Beschuldigter insgesamt nicht mehr als die Gebühren eines Wahlverteidigers schuldet, sind die von der Staatskasse gezahlten Pflichtverteidigergebühren in vollem Umfang anzurechnen (vgl. OLG Hamburg Rpfleger 1999, 413 = JurBüro 2000, 205; OLG Köln BeckRS 2014, 17497). Bei der Regelung, dass der Anspruch gegen den Beschuldigten insoweit entfällt, als die Staatskasse Gebühren gezahlt hat, bezieht sich das Wort „insoweit“ nicht auf die Gebührenart (z.B. Grundgebühr, Verfahrensgebühr, Terminsgebühr, Pauschgebühr), sondern auf den Umfang der von der Staatskasse geleisteten Zahlungen. Bei der Anrechnung der gezahlten Gebühren ist nicht nach Gebührenarten, Angelegenheiten im Sinne des § 17 Nr. 10 RVG oder Verfahrensabschnitten zu differenzieren.

Die von den Beteiligten erörterte Regelung des § 58 Abs. 3 RVG ist hier nicht einschlägig. Denn sie betrifft die Anrechnung von Vorschüssen und Zahlungen, die der Pflichtverteidiger von dem Mandanten oder Dritten (z.B. Familienangehörigen, Rechtsschutzversicherung) erhalten hat. Zahlungen der Staatskasse fallen nicht darunter (vgl. statt vieler: Volpert in: Burhoff/Volpert a.a.O. § 58 Rdn. 6).

Daher ist vorliegend ohne Belang, dass § 58 Abs. 3 RVG durch das 2. KostRMoG mit Wirkung ab 1. August 2013 dahin geändert worden ist, dass bei der Anrechnung nicht mehr auf Verfahrensabschnitte, sondern auf Angelegenheiten abzustellen ist. Die Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG ist unverändert geblieben. Mangels Regelungslücke besteht auch weder Anlass noch Raum, die Regelung des § 58 Abs. 3 RVG im Rahmen des  52 Abs. 1 Satz 2 RVG analog anzuwenden.

2. Der Pflichtverteidiger hat folgende Pflichtverteidigergebühren (netto) aus der Staatskasse erhalten (Gebührensätze nach VV RVG in der bis zum 31. Dezember 2020 gültigen Fassung):

Pauschgebühr 70.000 Euro
(anstelle Nr. 4100, 4104, 4112 VV RVG)
Terminsgebühr Nr. 4114 VV RVG 181 x 256 Euro 46.336 Euro
Längenzuschlag Nr. 4116 VV RVG 106 x 128 Euro 13.568 Euro
Längenzuschlag Nr. 4117 VV RVG 4 x 256 Euro 1.024 Euro
Summe 130.928 Euro.

Bei den Terminsgebühren eines Wahlverteidigers hat der Pflichtverteidiger 182 x 304 Euro = 55.328 Euro zusätzlich sowie 560 Euro für den letzten Verhandlungstag in Ansatz gebracht, so dass sich insgesamt Terminsgebühren in Höhe von 116.816 Euro netto (60.928 Euro + 55.328 Euro + 560 Euro) ergeben.

Die Differenz bei der Anzahl der Verhandlungstage (181 bzw. 182) erklärt sich daraus, dass die Rechtspflegerin die Terminsgebühr für den aufgehobenen Hauptverhandlungstermin vom 30. Januar 2018 bei den Pflichtverteidigergebühren abgesetzt hat, bei den Wahlverteidigergebühren jedoch nicht. Eine Begründung für diese unterschiedliche Handhabung enthält der angefochtene Beschluss nicht.

Anzumerken ist, dass sich für die 110 Verhandlungstage, bei denen die zu den Terminsgebühren eines Pflichtverteidigers gehörenden Längenzuschläge nach Nr. 4116 bzw. 4117 VV RVG angefallen sind, nach der von dem Pflichtverteidiger gewählten Berechnungsmethode (je Verhandlungstag 304 Euro zusätzlich) insgesamt Terminsgebühren ergeben, welche die zulässige Höchstgebühr eines Wahlverteidigers (560 Euro) mit 688 Euro bzw. 816 Euro deutlich überschreiten. Dass die Rechtspflegerin gleichwohl die angemeldeten zusätzlichen Terminsgebühren ungekürzt gegen die Staatskasse festgesetzt hat, kann nicht nachvollzogen werden. Abgesehen davon hätte der Pflichtverteidiger bereits bei der Antragstellung erkennen müssen, dass er bei seiner Berechnungsmethode die Längenzuschläge, die allein bei den Terminsgebühren eines Pflichtverteidigers vorgesehen sind und sich erheblich auf die Gebührendifferenz auswirken, nicht berücksichtigt hat. In die Vergleichsberechnung können die Terminsgebühren eines Wahlverteidigers maximal mit dem zulässigen Höchstbetrag (560 Euro) eingestellt werden. Einschließlich des letzten Verhandlungstages ergeben sich somit 183 x 560 Euro = 102.480 Euro (netto).

Auch ohne Bestimmung nach § 14 RVG sollen die Grund- und Verfahrensgebühren eines Wahlverteidigers rechnerisch ebenfalls mit dem zulässigen Höchstbetrag in die folgende Vergleichsberechnung einbezogen werden:

Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG 360 Euro
Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG 290 Euro
Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG 320 Euro
Terminsgebühr Nr. 4114 VV RVG 183 x 560 Euro 102.480 Euro
Summe 103.450 Euro.

Die gezahlten Pflichtverteidigergebühren von 130.928 Euro überschreiten mithin die Wahlverteidigergebühren deutlich, so dass nach § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG kein Zahlungsanspruch gegen den Mandanten und demzufolge kein Erstattungs-anspruch gegen die Staatskasse besteht.

Etwas anderes hätte sich selbst im Falle einer an die Stelle der Grund- und Verfahrensgebühren tretenden Pauschgebühr eines Wahlverteidigers (§ 42 RVG) nicht ergeben. Denn anders als die nach oben nicht begrenzte Pauschgebühr eines Pflichtverteidigers (§ 51 RVG) darf die Pauschgebühr eines Wahlverteidigers das Doppelte der für seine Gebühren geltenden Höchstbeträge nicht übersteigen, so dass hier anstelle der Grund- und Verfahrensgebühren maximal eine Pauschgebühr von 1.940 Euro (netto) erreichbar gewesen wäre.

Es kommt jedenfalls nicht in Betracht, die jeweils vorteilhaften Elemente aus dem Gebührenrecht des Pflichtverteidigers und des Wahlverteidigers im Sinne einer Meistbegünstigung („Rosinentheorie“) miteinander zu kombinieren. Vielmehr sind die von der Staatskasse gezahlten Pflichtverteidigergebühren nach Maßgabe des § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG insgesamt auf den Gebührenanspruch des Wahlverteidigers anzurechnen.“