Verkehrsrecht II: Straßenverkehrsgefährdung, oder: Reicht allein „Notbremsung bzw. eine Vollbremsung“?

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem BGH, Beschl. v. 20.12.2022 – 4 StR 377/22 – geht es auch noch einmal um einen (verneinten) Beinahe-Unfall.

Das LG hat den Angeklagten wegen diverser BtM-Delikte verurteilt und wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs. Die Verurteilung  wegen § 315c StGB hat der BGH beanstandet:

„1. Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte am 9. Januar 2022 im Auftrag eines unbekannten Dritten in den Niederlanden eine Plastiktüte mit 1.999 Gramm Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von 86,7 Prozent entgegen und verbrachte diese mit einem Pkw über die niederländisch-deutsche Grenze in das Bundesgebiet. Als er kurz nach dem Grenzübertritt in seinem Pkw in zweiter Reihe an einer roten Ampel wartete, wurden zwei Beamte der Bundespolizei auf das in erster Reihe vor ihm stehende Fahrzeug aufmerksam und beschlossen, es zu kontrollieren. Als der Angeklagte das sich nähernde Dienstfahrzeug wahrnahm, geriet er in Panik, weil er irrig annahm, die Polizeikontrolle gelte ihm. Er beschleunigte sein Fahrzeug und überfuhr die noch „Rot“ zeigende Lichtzeichenanlage über die Linksabbiegerspur. Infolgedessen musste ein unbekannt gebliebener Verkehrsteilnehmer, dessen Lichtzeichenanlage zu diesem Zeitpunkt „Grün“ zeigte, eine „Notbremsung bzw. eine Vollbremsung“ vornehmen, um einen Zusammenstoß mit dem vom Angeklagten geführten Fahrzeug zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa drei bis sechs Autos „im Nahbereich“. Nachdem der Angeklagte die Kreuzung passiert hatte, beschleunigte er nochmals und flüchtete.

2. Die tateinheitliche Verurteilung wegen Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) StGB hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die hierzu getroffenen Feststellungen nicht ergeben, dass durch den Vorfahrtsverstoß des Angeklagten Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet worden sind.

a) § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der ? was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist ? die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur Beschluss vom 17. Februar 2021 – 4 StR 528/20, NStZ-RR 2021, 187, 188 mwN; Beschluss vom 2. Juli 2013 – 4 StR 187/13, NStZ-RR 2013, 320, 321; Urteil vom 22. März 2012 – 4 StR 558/11 Rn. 11, insoweit in BGHSt 57, 183 nicht abgedruckt). Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (BGH, Beschluss vom 22. November 2022 – 4 StR 112/22 Rn. 7; Beschluss vom 27. April 2017 – 4 StR 61/17; Beschluss vom 16. April 2012 – 4 StR 45/12, NStZ-RR 2012, 252). Für die Annahme einer konkreten Gefahr genügt es daher nicht, dass sich Menschen oder Sachen in enger räumlicher Nähe zum Täterfahrzeug befunden haben (BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 Rn. 7 mwN). Umgekehrt wird die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete – etwa aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion – noch zu retten vermochte (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 – 4 StR 155/21, StV 2022, 26, 27; Beschluss vom 17. Februar 2021 – 4 StR 528/20, NStZ-RR 2021, 187, 188).

b) Daran gemessen fehlt es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision mit dem vorfahrtsberechtigten Kraftfahrzeug nur durch eine „Notbremsung bzw. eine Vollbremsung“ habe vermieden werden können. Es fehlt an Darlegungen zu den gefahrenen Geschwindigkeiten der beiden Fahrzeuge, den Abständen zwischen ihnen und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung durch den Fahrer des Pkw, der bei „Grün“ in den Kreuzungsbereich eingefahren ist. Für letztere geben allein die von der Strafkammer in diesem Zusammenhang offenkundig synonym verwendeten Begriffe der Not- und Vollbremsung nichts Konkretes her.

c) Damit kann auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen der Betäubungsmitteldelikte keinen Bestand haben, denn die Strafkammer ist insoweit von Tateinheit ausgegangen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2022 – 4 StR 272/22 Rn. 8; Urteil vom 2. Februar 2005 – 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61; Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 135/01 Rn. 18; Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 8; Kuckein in KK-StPO, 8. Aufl., § 353 Rn. 18, jew. mwN).“

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