OWi I: VerfGH Rheinland-Pfalz zum fairen Verfahren, oder: Nichtherausgabe von Case-List und Statistikdatei

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Ich beginne den neuen Monat November mit OWi-Entscheidungen.

An der Spitze steht der VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 27.10.2022 – VGH B 57/21 – zur Frage der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren bei Nichtherausgabe von Case-List und Statistikdatei im Fall eine Geschwindigkeitsüberschreitung.

Das AG hat den Betroffenen am 04.02.2019 (sic!) wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h zu einer Geldbuße von 120 EUR verurteilt. Die Messung wurde mit dem in einen Anhänger (Enforcement Trailer) eingebauten Messgerät PoliScan FM1 der Firma Vitronic vorgenommen. Die Verteidigung hatte bereits vor der Hauptverhandlung u.a. die Zurverfügungstellung der Statistikdatei mit Case-List sowie die Reparatur-, Wartungs- und Eichnachweise beantragt. In der Hauptverhandlung hat der Verteidiger den Antrag auf Einsicht in die Messunterlagen wiederholt, verbunden mit einem Aussetzungsantrag.

Das OLG Koblenz – Einzelrichter – hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschl. v. 06.06.2019 als unbegründet verworfen. Der daraufhin erhobenen Verfassungsbeschwerde hat der VerfGH mitVerfGH Rheinland-Pfalz, Urt. v. 15.01.2020 – VGH B 19/19 – teilweise stattgegeben. Das OLG Koblenz habe gegen die Rechte des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem es willkürlich die Rechtsbeschwerde nicht zur Fortbildung des Rechts zugelassen und die Sache nicht dem BGH im Wege der Divergenzvorlage zur Entscheidung vorgelegt habe.

Das OLG Koblenz ließ daraufhin die Rechtsbeschwerde zu, hob das Urt. des AG v. 04.02.2019 auf und verwies die Sache an das AG zurück. Dieses verurteilte den Betroffenen mit Urt. v. 18.01.2021 erneut – diesmal unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer zu einer Geldbuße von 80 EUR. Der Betroffene stellte erneut einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und rügte u.a. die Verletzung des Einsichtsrechts in die begehrten Messunterlagen sowie die Verwendung eines die Rohmessdaten löschenden Geschwindigkeitsmessgerätes. Das OLG Koblenz verwarf den Zulassungsantrag mit Beschl. v. 26.07.2021 als unbegründet.

Dagegen wendet sich der Betroffene erneut mit der Landesverfassungsbeschwerde und rügt die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in Gestalt des Rechts auf ein faires Verfahren, des Willkürverbots und der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes.

Die hat zum Teil Erfolg. Ich stelle hier jetzt mal nicht die recht umfangreiche Begründung des VerfGH ein, sondern zitiere aus der PM, und zwar wird dort ausgeführt:

„Auch diese Verfassungsbeschwerde hatte nun Erfolg. Allerdings verstoße das Urteil des Amtsgerichts Wittlich nicht schon deshalb gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –), weil dem Beschwerdeführer keine Einsichtnahme in die Case-List bzw. Statis¬tikdatei ermöglicht worden sei. Zwar folge aus dem Recht auf ein faires Verfahren im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen eines Bußgeldverfahrens, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die – wie etwa die Case-List bzw. Statistikdatei – nicht zur Buß-geldakte genommen wurden, da hierdurch dem Gedanken der „Waffengleich¬heit“ Rech¬nung getragen werde. Allerdings bestehe ein solcher Anspruch nicht unbe¬grenzt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sach¬gerechte Eingrenzung des Informationszugangs erforderlich sei. Das Einsichts¬recht bestehe nur für eine solche Information, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ord¬nungswidrigkeitenvorwurf stehe und eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung auf¬weise. Ein Dokument, dem bei objektiver Betrachtung ganz offensichtlich keine Bedeu¬tung für die Verteidigung zukomme, müsse daher nicht zur Verfügung gestellt werden, auch wenn der Betroffene dies anders beurteile. Die Case-List bzw. Statistik¬datei gebe zwar Auskunft über die Anzahl der vom Messgerät in einem bestimmten Zeitraum ins¬gesamt festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitungen und der erfass¬ten Fahrzeuge, diese Informationen ließen aber ersichtlich keine Rückschlüsse auf die Messgenauig¬keit bzw. Messrichtigkeit der (nicht annullierten) konkreten Einzelmessung zu. Selbst eine hohe Annullationsrate gebe keinen Hinweis auf fehlerhafte oder auffäl¬lige Messun¬gen. Sie sei vielmehr gerade Ausdruck einer funktionierenden Qualitätsprüfung durch das Gerät selbst.

Die Verfassungsbeschwerde sei aber deswegen erfolgreich, weil dem Beschwerdefüh¬rer keine umfassende Auskunft zu den Reparatur- und Wartungsunterlagen des kon¬kreten Messgerätes – auch über den Tag der Messung hinaus – erteilt worden sei. Anders als die Case-List bzw. Statistikdatei seien diese Informationen zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung des Messgerätes nicht schlechthin ungeeignet. Dies habe der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz bereits mit Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 – (Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Nr. 8/2021 vom 15. Dezember 2021) entschieden. Das Amtsgericht Wittlich habe diese Rechtsprechung in seiner Entscheidung vom Januar 2021 aber naturgemäß noch nicht berücksichtigen können.“

Ob das alles so richtig ist und dem BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/19 – entspricht, kann man m.E. bezweifeln. Man kann nur hoffen, dass das BVerfG bald in dem nun schon lange anhängigen Verfahren 2 BvR 1167/20 nochmals einiges zur Sache sagt und dann hoffentlich endlich Ruhe eintritt. Allerdings: Viel Hoffnung habe ich nicht, wenn ich mir den Verfahrensverlauf in diesem Verfahren anschaue. Das AG darf dann jetzt sicherlich zum dritten Mal entscheiden, wenn das OLG nicht wieder mauert 🙂 .

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