Nochmals: Ist immer ein Erstreckungsantrag erforderlich?, oder: Für die Galerie = hoffentlich bald erledigt

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Ich hatte vorhin den LG Münster, Beschl. v. 04.09.2020 – 20 Qs 9/10  – vorgestellt (vgl. Glaubhaftmachung bei der Vergütungsfestsetzung, oder: Reicht immer die anwaltliche Versicherung?). Auf den Beschluss komme ich jetzt noch einmal zurück. Besser: „Muss“ ich zurückkommen, denn mein RVG-Ordner ist leer. Ich lann also neue Rechtsprechung gut gebrauchen und bin dankbar, wenn mir Entscheidungen übersandt werden.

Ich hatte ja vorhin schon darauf hingewiesen, dass es im zweiten Themenbereich der Entscheidung um eine Erstreckungsfrage geht, nämlich (mal wieder) den Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 Satz 1 StPO oder: Ist immer ein Erstreckungsantrag erforderlich oder nur in bestimmten Fällen bzw. kommt es auf die zeitliche Reihenfolge von Verbindung und Beiordnung an. Die Frage ist in der Rechtsprechung ja nicht unumstritten. Das LG schließt sich der Auffassung an, die immer einen Erstreckungsantrag verlangt, und zwar auch für Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurde:

„3.2.2. Es fehlt in diesem Verfahren an der notwendigen Beiordnung des Beschwerdeführers als Grundvoraussetzung der von ihm begehrten Gebührenerstattung aus der Landeskasse. Das Amtsgericht Münster hat im Beschluss vom 13.05.2019, in dem es den Beschwerdeführer im Verfahren 37 Ds 184/18 – nach Verbindung mit dem Verfahren 37 Ds 29/19 – der damaligen Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet hat, diese Beiordnung nicht auf das zuvor hinzuverbundene Verfahren erstreckt. Eine derartige Erstreckungsentscheidung wäre gemäß § 48 Abs. 6 S. 3 RVG aber notwendige Voraussetzung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse. Ohne Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG besteht kein rückwirkender Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für der Beiordnung vorausgehende Tätigkeiten als Wahlverteidiger in hinzuverbundenen Verfahren. Der anwaltliche Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in vor der Beiordnung hinzuverbundenen Verfahren folgt nicht bereits aus § 48 Abs. 6 S. 1 RVG (so aber OLG Hamm, Beschlüsse vom 16. Mai 2017, Az. 1 Ws 95/17, Rn. 33; vom 6. Juni 2005, Az.: 2 (s) Sbd VIII – 110/05, Rn. 7 und 14; OLG Bremen, Beschluss vom 7. August 2012, Az.: Ws 137/11, Rn. 14 f.; KG, Beschluss vom 17.03.2009, Az.: 1 Ws 369/08, Rn. 3; OLG Jena, Beschluss vom 12. Juni 2008, Az.: 1 AR (S) 13/08, Rn. 19; jeweils zitiert nach juris). Vielmehr gilt die Vorschrift des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG für alle Fälle der Verfahrensverbindung, ungeachtet der zeitlichen Reihenfolge von Verbindung und Beiordnung. Die Kammer schließt sich in dieser Frage ausdrücklich der überzeugend begründeten jüngsten Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg in dessen Beschluss vom 20. November 2017 – 2 Ws 179/17 – an, auf die zur näheren Begründung verwiesen wird. Insbesondere ermöglicht nur diese Sichtweise die Sicherstellung sachgerechter Ergebnisse. Zwar kann es von Zufällen abhängen, welches Verfahren bei einer Verbindung das führende wird; das führende Verfahren ist nicht notwendig das gewichtigste (so etwa OLG Bremen aaO. Rn. 15). Genauso zufällig könnte aber eine automatische Gebührenerstreckung auf alle hinzuverbundenen Verfahren zur Vergütungspflicht für frühere Tätigkeiten etwa auch in Bagatellverfahren führen, in denen für sich genommen eine Pflichtverteidigung zunächst nicht angezeigt war (so auch OLG Braunschweig, Beschluss vom 22. April 2014, Az.: 1 Ws 48/14). Folglich sind wertungswidersprüchliche bzw. zufällige gebührenrechtliche Auswirkungen nur mit dem vom Gesetzgeber in § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG eröffneten Verfahren der gerichtlichen Prüfung und Bestimmung des Umfangs einer rückwirkenden Gebührenerstreckung im Einzelfall zu vermeiden (ebenso im Ergebnis OLG Braunschweig, a.a.O; OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Mai 2012, Az.: 2 Ws 242/12, Rn. 14 ff.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 27. Dezember 2010, Az.: 1 Ws 583/10, Rn. 7; OLG Celle, Beschluss vom 2. Januar 2007, Az.: 1 Ws 575/06; ähnlich: OLG Rostock, Beschluss vom 27. April 2009, Az.: I Ws 8/09, Rn. 8; jeweils zitiert nach juris). Eine derartige Erstreckungsentscheidung hat der Beschwerdeführer bis zuletzt auch trotz dahingehener Hinweise der Bezirksrevisorin nicht beantragt. Angesichts dessen bleibt für die Annahme einer konkludenten Antragstellung kein Raum. Letztlich kann dies offenbleiben. Eine Rückgabe wegen dieses Umstandes an das Amtsgericht scheidet schon deshalb aus, weil dieser Frage aufgrund der Ausführungen zu 3.2.1 letztlich keine Entscheidungsrelevanz zukommt.“

Mal abgesehen davon, dass das LG mit seiner Auffassung m.E. falsch liegt, ist die Entscheidung in dem Teil „für die Galerie“. Mir ist schon unverständlich, warum man sich gegen das eigene OLG stellt – sonst ist das, was das „übergeordnete“ OLG vertritt, doch immer maßgeblich. Und erst recht verstehe ich nicht, warum man jetzt noch die Auffassung vertritt. Denn das KostRÄG 2021 (vgl. BT-Drucks. 19/23484 = BR-Drucks. 19/565) ändert den § 48 Abs. 6 RVG im Sinne der „richtigen“ Auffassung. Da kann man m.E. das Gegenteil nicht mehr mit gutem Gewissen vertreten. Die Gesetzesänderung ist übrigens gestern im Bundestag in der ersten Beratung gewesen, und zwar im sog. vereinfachten Verfahren. Diese Vorgehensweis dürfte mit der von der Bundesregierung bejahten „besonderen Eilbedürftigkeit“ (Art 76 Abs. 2 Satz 2 GG) zu tun haben.

Kleiner Hinweis: Unverständlich ist mir aber auch, warum der Verteidiger nicht den Hinweis der Bezirksrevisorin aufgegriffen und zumindest im Festsetzungsverfahren noch den Erstreckungsantrag gestellt hat. Die „goldene Brücke“ hätte er doch gehen können. Mit dem Kopf bringt doch nichts. Ob der Antrag erfolgreich gewesen wäre, ist eine andere Frage, die man nicht beantworten kann – es spricht aber einiges dafür. Jedenfalls wäre das eine Möglichkeit gewesen, diese Klippe zu umschiffen.

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