BVerfG I: Rechtliches Gehör spätestens in der Beschwerde, oder: Mantra Begründungstiefe

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Urheber Bin im Garten

Nun, so richtig ist die Arbeit in den Kanzleien noch nicht wieder angelaufen. Man merkt es an der Statistik = den Zugriffszahlen betreffend die jeweiligen Beiträge. Aber es nutzt nichts, hier geht es „normal“ weiter, und zwar heute mit drei Entscheidungen des BVerfG.

Ich eröffne mit dem BVerfG, Beschl. v. 18.09.2018 – 2 BvR 745/18, der schon etwas länger in meinem Blogordner hängt. Er war ja auch Gegenstand des HRRS-Newsletters von Dezember 2018. Und von dort habe ich mir die Leitsätze „geklaut“, die Kollegen mögen es mir nachsehen. Sie lauteten:

1. Der konventionsrechtliche Grundsatz der Waffengleichheit gebietet es, einen Verfahrensbeteiligten über Stellungnahmen eines anderen Verfahrensbeteiligten in Kenntnis zu setzen und ihm die realistische Möglichkeit zu gewähren, seinerseits Stellung zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 7. September 2017, Nr. 8844/12, Stollenwerk gegen Deutschland) gilt dies unabhängig davon, ob die Stellungnahme dem Beteiligten bislang unbekannte Tatsachen enthält oder nicht.

2. Soweit Eingriffsmaßnahmen – wie die Untersuchungshaft – ohne vorige Anhörung angeordnet werden können, darf eine Beschwerdeentscheidung zu Lasten des Beschuldigten nicht ergehen, ohne dass dieser zu der erforderlichen Erklärung der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen konnte.

3. Hiervon unberührt bleibt die Anwendung des Beruhensgrundsatzes, wonach ein Gehörsverstoß nur dann zur Aufhebung einer Entscheidung führt, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Die praktische Wirksamkeit der konventionsrechtlichen Garantie der Waffengleichheit wird dadurch nicht gemindert.

4. §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse, sondern erfassen über den Gesetzeswortlaut hinaus jeden Aspekt des rechtlichen Gehörs.

5. Namentlich in Haftsachen darf eine gerichtliche Entscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind.

6. Bei der Bestimmung des sachlichen Gehalts des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen. Dies zielt allerdings nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe, sondern auf eine funktionsanaloge Adaption der Gewährleistungsgehalte der EMRK.

7. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

8. Mit einer gerichtlichen Verurteilung vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs. Allerdings ist es mit dem Resozialisierungsgebot nicht vereinbar, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten, bis die Strafe überwiegend oder vollständig verbüßt ist.

9. Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht hinreichend substantiiert, wenn die angegriffene Entscheidung maßgeblich auf die Gründe einer anderen Entscheidung verweist und der Beschwerdeführer diese weder vorlegt, noch ihrem wesentlichen Inhalt nach mitteilt.

Also: Problematik Anhörungsrüge und rechtliches Gehör und eben „Begründungstiefe“ – ein „Mantra“ des BVerfG, das leider viele Instanzgerichte nicht beachten, obwohl das BVerfG die Ausführungen dazu „gebetsmühlenartig“ immer wieder bringt. Dazu dann hier auch noch einmal das BVerfG:

„Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 -, juris, Rn. 42). In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 38). Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5 f.>; 15, 474 <481 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 39; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2014 – 2 BvR 1457/14 -, juris, Rn. 25; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17 -, juris, Rn. 19, m.w.N.). Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18 -, juris, Rn. 34). Eine Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung auf die zutreffende Anwendung einfachen Rechts nimmt das Bundesverfassungsgericht hingegen ausschließlich im Rahmen des Willkürverbots vor (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 65, 317 <322>; stRspr).“

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