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Corona II: Schulische Maßnahmen wegen Corona, oder: Die Zuständigkeit von Familiengerichten

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Und als zweite Corona-Entscheidung am Pfingstmontag hier der AG Essen, Beschl. v. 07.05.2021 – 106 F 83/21, Der passt ganz gut zu dem AG Weimar, Beschl. v. 08.04.2021 – 9 WF 148/21 – und zum OLG Jena, Beschl. v. 14.05.2021 – 1 UF 136/21 (vgl. dazu Corona I: OLG Jena hebt AG-Weimar-Masken-Beschluss auf: „Familienrichter bleib bei deinen Leisten“).

Das AG Essen zeigt, wie es – m.E. – richtig geht. Es hatte über eine Anregung „von Amts wegen ein Verfahren gemäß § 1666 Abs. 1 und 4 BGB zur Beendigung einer derzeit bestehenden nachhaltigen Gefährdung des körperlichen, seelischen und geistigen Wohls von TO wie darüber hinaus aller weiteren Schulkinder der F-Schule, Essen, die aufgrund von schulinternen Anordnungen zur Wahrung räumlicher Distanz zu anderen Personen und zur Zulassung von gesundheitlichen Testverfahren an Schülern auf dem Gelände der Schule ohne vorherige schriftliche ausdrückliche Genehmigung der Sorgeberechtigten besteht zu eröffnen und darin auch die Rechtmäßigkeit der diesen Anordnungen zugrundeliegenden Vorschriften der CoronaSchVO sowie insbes. die §§ 1ff der VO zum Schutz von Neuinfektionen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 im Bereich der Betreuungsinfrastruktur des Landes NRW i. d. F. vom 19.04.2021  zu überprüfen, hilfsweise für den Fall, dass eine Entscheidung der Hauptsache aus formellen Gründen kurzfristig nicht möglich ist, eine einstweilige Anordnung ohne mündliche Verhandlung nach § 49 ff. FamFG zu erlassen, mit der die nachstehend begründete Gefährdungslage für F bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch vorläufige Aussetzung der schulinternen Anordnungen zum Tragen des Mund- und Nasenschutzes, zur Einhaltung von Mindestabständen anderen Personen gegenüber und/oder die Zulassung von gesundheitlichen Testungen vorläufig aufgehoben  bzw. untersagt wird.“ zu entscheiden.

Das hat das AG getan und den Antrag zurückgewiesen, und zwar als „bereits nicht zulässig“ und auch unbegründet:

„Der Antrag ist bereits nicht zulässig.

Für alle weiteren Schulkinder der F-Schule gilt das bereits deshalb, weil der Antragsteller nicht befugt ist, für diese namentlich nicht benannten Kinder Anträge zu stellen. Ihm mangelt es an der entsprechenden elterlichen Sorge oder einer Vollmacht aller Eltern dieser Kinder.

Die Ausführungen des Amtsgerichts Weimar, es sei wegen des Gleichbehandlungsgebots des Art. 3 GG verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur für solche Kinder, deren Eltern bereit und in der Lage wären, gebotene gerichtliche Anträge zu stellen, ein Schutz bestehe, können nicht nachvollzogen werden. Denklogische Konsequenz dieser Argumentation wäre, dass (sämtliche) deutschen Familiengerichte für alle Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland von Amts wegen Kinderschutzverfahren im Rahmen der staatlichen Fürsorgepflicht einleiten müssten. Dies wäre jedoch ein Verstoß der Familiengerichte gegen den Erziehungsvorrang der Eltern, wie er in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als natürliches Recht der Eltern verankert ist. Das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ist subsidiär (AG Waldshut-Tiengen Beschl. v. 13.4.2021 – 306 AR 6/21, BeckRS 2021, 6998).

Im Übrigen hat der Antragsteller hinsichtlich des ihn selbst betreffenden Antrags auch den falschen Rechtsweg gewählt. Nach gerichtlichem Hinweis soll keine Verweisung an die Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgen, sondern unter Hinweis auf Entscheidungen des AG Weimar vom 08.04.2021 (9 F 148/21) und Weilheim i. OB vom 13. April 2021 (2 F 192/21) eine sorgerechtliche Regelung.

Der Antragsteller wendet sich jedoch gegen hoheitliche Maßnahmen der Schulverwaltung auf Grund der o. g. Vorschriften, womit es sich um eine öffentlich-rechtlichen Streitigkeit handelt. Hierfür ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet, weil sich das Antragsbegehren gegen Maßnahmen der Träger öffentlicher Gewalt einschließlich der Schulbehörden richtet. Die gerichtliche Kontrolle dieser hoheitlichen Maßnahmen einschließlich der Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Schulen, die auf öffentlichem Recht basieren, obliegt allein den Verwaltungsgerichten (vgl. zuletzt nur VG Weimar, B.v. 20.4.2021 – 8 E 416/21 We – juris Rn 6 f.; AG Waldshut-Tiengen, B.v. 13.04.2021 – 306 Ar 6/21 – juris Rn. 8; VG Würzburg, Beschluss vom 23. April 2021 – W 8 E 21.546 -, juris ; AG Dippoldiswalde, Beschluss 29.04.2021 – 7 F 204/21, juris).

2. In der Sache hätte der Antrag jedoch auch keinen Erfolg.

a) Eine Maßnahme zum Schutz des Kindes gemäß § 1666 Abs. 1 BGB setzt zum einen eine gegenwärtige, erhebliche Gefährdung des Kindes voraus und zum anderen die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern diese Gefährdungslage abzuwenden.

Dass eine Gefährdungslage für ihn durch einen Elternteil gesetzt worden sei, ist durch den Antragsteller nicht behauptet worden. Gleiches gilt für die Fähigkeit oder Bereitschaft der Eltern, eine möglicherweise bestehende Gefährdungslage abzuwenden.

Soweit er Einsamkeit, Schulunlust („selbst der Distanzunterricht habe ihm keine Freude bereitet“) und Gefahren bei einer unsorgfältigen Verwendung der Testmaterialien sowie eine psychische Belastung benennt, obliegt es seinen sorgepflichtigen Eltern, ihm die Situation altersgerecht zu erklären, ihn zu motivieren und – falls nötig – das Testprozedere mit ihm zu üben.

Hinsichtlich der angegriffenen Pflicht zum räumlichen Abstand wird nichts weiter vorgetragen. Die Maskenpflicht wird in der vorliegenden Hauptsache – anders als im EA – Verfahren 106 F 84/21 – nicht thematisiert.

Gerade umgekehrt wird die Gefahr einer Infektion des Antragstellers mit u. U. schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen gerade deshalb vermieden, weil die vorgeschriebenen Abstandsgebote sowie die Test- und Maskentragungspflicht in der Schule umgesetzt werden, also die Schule die Vorschriften umsetzt, die das Land aufgrund der vom Bundestag festgestellten Pandemielage von nationaler Bedeutung aufgrund des Bundesinfektionsschutzes getroffen hat (ebenso AG Elmshorn, Beschluss vom 21.04.2021, 44 F 33/21).

b) § 1666 Abs. 4 BGB ist hier nicht einschlägig.

Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann das Gericht in Angelegenheiten der Personensorge auch Maßnahmen gegen Dritte treffen, um eine solche Gefährdungslage abzuwenden.

Der Begriff des „Dritten“ ist nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auszulegen.

Dazu gehören nach ganz einhelliger Rechtsprechung jedoch lediglich natürliche Personen wie Verwandte (BayObLG FamRZ 1995, 948: ältere Schwester des Kindes), Freunde eines Elternteils (OLG Düsseldorf NJW 1995, 1970), der Stiefelternteil (BayObLG FamRZ 1994, 1413), eine Pflegeperson (anders MüKoBGB/Olzen Rn. 40), ein Nachbar (BT-Drs. 8/2788, 59; OLG Zweibrücken FamRZ 1994, 976), aber auch der nicht sorgeberechtigte Elternteil sowie eine sonstige auf das Kind einwirkende Person, z. B. der neue Lebensgefährte, ersichtlich nicht jedoch Körperschaften des öffentlichen Rechts. Eine Einwirkung auf diese ist lediglich im Rahmen eines verwaltungsrechtlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Verfahrens möglich (OLG Nürnberg, Beschlüsse vom 29.04.2021, 9 WF 342/21 und 343/21, juris; AG Reutlingen Beschl. v. 7.4.2021 – 16 F 247/21, BeckRS 2021, 7047).

Sinn und Zweck der Vorschrift ist nämlich die Erfüllung der durch Art. 6 Abs. 2 GG angeordneten Wächterpflicht des Staates über die Ausübung des Sorgerechts durch die Eltern. Dazu wird eine Eingriffsbefugnis des Familiengerichts bei einer Gefährdung des Kindes durch die eigenen Eltern normiert sowie – im Falle ihrer Untätigkeit – auch gegen andere natürliche Personen.

Dies wird bestätigt durch die systematische Auslegung. Danach ist eine Vorschrift nicht isoliert sondern im Zusammenhang mit den weiteren desselben Gesetzes und unter Berücksichtigung ihrer Stellung in der Rechtsordnung auszulegen. Das Tatbestandsmerkmal der vorrangigen Elternabhilfe, der Inhalt des  Maßnahmenkatalogs (öffentliche Hilfen anzunehmen, den Schulbesuch sicherzustellen usw.) und die Einordnung der Norm in den Titel 5 über die elterliche Sorge zeigen, dass Adressaten der Anordnungen primär die Inhaber der elterlichen Sorge sind. Schon für Vormünder und Pfleger gilt § 1666 BGB nicht direkt, sondern i. V. m. § 1837 Abs. 4 BGB bzw. 1915 Abs. 1 BGB. Der Rechtsschutz gegen behördliche Maßnahmen ist hingegen im öffentlichen Recht detailliert geregelt. Die spezialgesetzlichen Voraussetzungen können nicht durch erweiternde Auslegung von § 1666 BGB umgangen werden. Selbst bei etwaigen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen – die das Familiengericht jedoch nicht hat (so auch OVG Schleswig-Holstein (13.11.2020 3 MR 61/20) zur Maskenpflicht und VGH München (02.03.2021, 20 NE 21.369) zur Testpflicht –  führt dies nicht dazu, dass das Familiengericht sich an die Stelle des Verwaltungsgerichtes setzen dürfte und Anordnungen gegenüber der Schule trifft (ebenso AG Elmshorn, Beschluss vom 21.04.2021, 44 F 33/21).

Weil der Antrag aus Rechtsgründen unzulässig ist, sind weitere Maßnahmen nicht geboten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, 3 und 4 FamFG. Dem Antragsteller als minderjährigem Beteiligten in einem Kindschaftsverfahren können Kosten gemäß § 81 Abs. 3 FamFG nicht auferlegt werden. Die Kosten sind vorliegend gemäß § 81 Abs. 4 FamFG den Eltern aufzuerlegen, weil sie die Tätigkeit des Gerichtes veranlasst haben und sie ein grobes Verschulden trifft. Aus einer Vielzahl bei verschiedenen Amtsgerichten eingeleiteter Verfahren (s. o.) und dem im hiesigen Verfahren verwendeten Mustertext wird dem Gericht offenkundig, dass es sich bei dem Inhalt der Antragsschrift um ein vorgefertigtes Schreiben handelt. Das Antragsschreiben wurde lediglich im Hinblick auf das Kind sowie die Schule / Gemeinde individualisiert  (u. a. AG Siegburg, Beschluss vom 20. April 2021 – 323 F 48/21 -, Rn. 4, juris; AG München, Beschluss vom 18. März 2021 – 542 F 2559/21 -, juris) Dabei wurde allerdings der Antragsteller z. T. auch als F bezeichnet, eine Überprüfung der Verordnung des Kreises Kleve gewünscht und die Anschrift des hiesigen Antragstellers nicht angegeben.

Der Verfahrenswert der Anträge in der Hauptsache beträgt hinsichtlich des Antragstellers nach § 45 Abs. 1 FamGKG 4.000 Euro und hinsichtlich aller weiteren Schulkinder der F-Schule 30.000 Euro, weil angesichts der hohen Schülerzahl eine Vielzahl weiterer Sorgerechtsverhältnisse Verfahrensgegenstand ist. Nicht ein und denselben Verfahrensgegenstand betreffen bereits jene Verfahren, in denen Anträge oder von Amts wegen zu regelnden rechtliche Beziehungen mehrerer Personen im Verhältnis zu demselben Kind zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden sind, wie z. B. die Regelung des Umgangs mehrerer Bezugspersonen mit demselben Kind gem. § 1685 BGB (OLG Brandenburg NJW-RR 2018, 584; BeckOK KostR/Neumann, 32. Ed. 1.1.2021, FamGKG § 45 Rn. 55). Hier geht es um eine Regelung für eine Vielzahl weiterer Kinder mit völlig anderen Sorgeberechtigten.“