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Erzwingungshaft I, oder: Ein Tag für 15 EUR

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Und dann heute noch zwei Entscheidungen zur Erzwingungshaft. Zunächst der LG Berlin, Beschl. v. 04.04.2018 – 502 Qs 16/18. Es geht um die Vollstreckung einer Restgeldbuße von 130 €. Dafür setzt das AG eine Erzwingungshaft von 26 Tagen fest. Dem LG ist das zu hoch. Es kommt „nur“ zu 20 Tagen:

„a) Die Vorschrift über die Anordnung der Erzwingungshaft, § 96 OWiG, trifft keine konkrete Regelung über die Bemessung der Dauer. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidung des Gesetzgebers, der diese Frage der Rechtsprechung überlassen hat (BT-Drs. V/1269, S. 119).

Mit dem Wort „bemessen“ bezweckte der Gesetzgeber, dass nicht stets die in § 96 Abs. 3 Satz 1 OWiG vorgesehene Höchstdauer von sechs Wochen = 42 Tagen anzuordnen, sondern im Einzelfall zu entscheiden ist (vgl. BT-Drs. a.a.O, s. a. LG Berlin, NZV 2004, S. 656).

b) Bei der Bemessung der Dauer der Erzwingungshaft ist nach dem Wortlaut des § 96 Abs. 3 Satz 2 OWiG „auch“ der zu zahlende Betrag der Geldbuße zu berücksichtigen.

Der Gesetzgeber wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Höhe der Geldbuße einer der Bezugspunkte für das Maß der Erzwingungshaft ist und auch das Vorverhalten des Betroffenen, beispielsweise eine besondere Hartnäckigkeit, eine planmäßige Vereitelung der Vollstreckung und der Grad seiner Freiheitsempfindlichkeit wie etwa schwerwiegende persönliche oder berufliche Auswirkungen von Bedeutung sind.

Eine bloß schematische Umrechnung von Geldbuße in Tage der anzuordnenden Erzwingungshaft ist daher vom Gesetzgeber nicht gewollt. Insgesamt muss die Dauer verhältnismäßig sein.

c) Die Anordnung der Erzwingungshaft ist nach dem Gesetz („kann“, § 96 Abs. 1 Satz 1 OWiG) eine Opportunitätsentscheidung des Gerichts, das bei der Ausübung seines Ermessens jedoch nur vollstreckungsrechtliche Erwägungen anstellen darf. Das Gericht darf daher die Erzwingungshaft nicht als ersatzweises Übel anwenden, weil die Erzwingungshaft lediglich ein Beugemittel zur Durchsetzung der dem Betroffenen obliegenden Pflichten ist (zum Vorstehenden insbesondere BT-Drs. V/1269, S. 117, 119; s.a. KK-OWiG/Mitsch, 5. Aufl. 2018, § 96, Rn. 32; Göhler-OWiG/Seitz, § 96, Rn. 17; vgl. auch BVerfG NJW 1977, S. 293 ff.).

d) Soweit in der Literatur teilweise die Ansicht vertreten wird, dass sich aus §§ 17, 56 OWiG Ermessensgrenzen für die Bemessung der Dauer der Erzwingungshaft ergäben und daher die maximale Dauer von 42 Tagen nur bei Geldbußen von mehr als 1.000 Euro in Betracht komme und bei Geldbußen bis zu 55 Euro höchstens ein Tag zu verhängen sei (Blum/Gassner/Seith-OWiG, 1. Aufl. 2016, § 96, Rn. 21), so stellt diese Ansicht einseitig lediglich auf die Höhe der Geldbuße ab. Der Gesetzgeber hat nach dem zuvor Gesagten gerade keine nur an der Geldbuße orientierten Ermessensgrenzen vorgesehen, sondern ausdrücklich weitere Gesichtspunkte zugelassen.

e) Auch die veröffentlichte Rechtsprechung ist am Einzelfall orientiert: Wegen 10755 DM Geldbuße sind 88 Tage festgesetzt worden (zum Verfahren VerfGH Berlin NStZ-RR 2001, S. 211); wegen einer Geldbuße von 275 Euro sind sechs Tage und für eine Geldbuße von 375 Euro sind acht Tage festgesetzt worden (LG Duisburg, Beschl., vom 8. Januar 2013, 69 Qs 2/13, juris – zustimmend Bohnert/Krenberger/Krumm-OWiG, 4. Aufl. 2016, § 96, Rn. 13); wegen einer Geldbuße von 255,65 Euro sind 10 Tage festgesetzt worden (LG Berlin NZV 2004, S. 656); wegen einer Geldbuße von 50 Euro sind fünf Tage festgesetzt worden (LG Berlin NJW 2007, S. 1541 f.); wegen einer Geldbuße von 40 Euro sind zehn Tage festgesetzt worden (LG Berlin NZV 2007, S. 373 f.); wegen einer Geldbuße von 30 Euro sind zwei Tage verhängt worden (LG Berlin NZV 2007, S. 324, nachdem das Amtsgericht sechs Tage festgesetzt hatte); wegen Geldbußen von 15 Euro sind jeweils zwei Tage festgesetzt worden (LG Arnsberg NZV 2006, S. 446; der Betroffene befand sich indes in Strafhaft, daher ablehnend Eisenberg NZV 2007, S. 102); und wegen einer Geldbuße von fünf Euro ist Erzwingungshaft abgelehnt worden (AG Lüdinghausen NZV 2005, S. 600).

f) In der Regel wird jedoch eine Festsetzung, die für jeweils 15 Euro des nicht gezahlten Bußgeldes einen Tag Erzwingungshaft vorsieht, nicht unverhältnismäßig sein. Denn bei hohen Bußgeldern wird die Höchstdauer der Freiheitsentziehung bereits durch das Gesetz (§ 96 Abs. 3 Satz 1 OWiG) begrenzt. Andererseits muss die Erzwingungshaft auch bei niedrigeren Bußgeldern ihren Zweck erfüllen können, ein wirksames Mittel dafür zu sein, dass die Pflicht zur Zahlung der Geldbuße gebührend beachtet wird (vgl. BT-Drs. a.a.O., S. 117). Daher ist es auch nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall ein niedrigerer oder höherer Wert zur Grundlage der Bemessung der Erzwingungshaft herangezogen wird.“

Um die Grundsätze kann man m.E. streiten. Aber hier: Auch bei einem Betroffenen, der Leistungen nach dem ALG II bezieht und sich nach seinem Vortrag im Regelinsolvenzverfahren befinden soll, wohl noch angemessen. Denn: Die Geldbuße ist seit zwei Jahren bekannt. Und: Ich vermute mal, dass die mehrfachen Erklärungen des Betroffenen, zahlen zu wollen, ohne dann zu zahlen, die Kammer „genervt“ haben.

Obdachlos und drogenabhängig, oder: Keine Erzwingungshaft

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Auch die zweite Entscheidung hat einen – zumindest für mich – nicht alltäglichen Sachverhalt. Es geht im AG Dortmund, Beschl. v. 01.03.2018 –  729 OWi 15/18 [b] – um die Anordnung von Erzwingungshaft (§ 96 OWiG). Das hat das AG in sechs Verfahren abgelehnt:

„Der Antrag auf Anordnung der Erzwingungshaft wird zurückgewiesen, weil die Betroffene feststellbar zahlungsunfähig ist. Hier sind die Verfahren 729 OWi 15-20/18 [b] anhängig, in denen es stets um die Vollstreckung von Bußgeldern wegen Konsums harten Drogen Kokain/Heroin in der Öffentlichkeit geht. Aus den Vorwürfen ergibt sich, dass die Betroffene drogenabhängig ist. Zudem ist sie obdachlos. Schließlich hat – erwartungsgemäß unter diesen Umständen – zuletzt eine durch die Stadt in Auftrag gegebene Taschenpfändung zu dem Ergebnis geführt, dass keine pfändbaren Sachen vorhanden waren. Vor diesem bedauernswerten Hintergrund darf das Gericht davon ausgehen, dass die Betroffene zahlungsunfähig ist. Sämtliche Anträge auf Anordnung von Erzwingungshaft waren damit zurückzuweisen.“

Nochmals: Verhältnismäßigkeit bei der Erzwingungshaft, oder: Nur 10 EUR

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Und dann als dritte Entscheidung des heutigen Tages nochmals das AG Dortmund zur Erzwingungshaft. Das hatten wir neulich schon mal (siehe hier den AG Dortmund, Beschl. v. 21.03.2017 – 729 OWi 18/17 [b] und den AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b], dazu Für 5/15 Euro in die Erzwingungshaft?, oder: Verhältnismäßig).

Es geht auch hier um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Das AG hat seinem AG Dortmund, Beschl. v. 20.06.2017 – 729 OWi 71/17 [b] – folgende Leitsätze vorangestellt:

  1. Auch eine Geldbuße von 10 Euro ermöglicht grundsätzlich die Anordnung von Erzwingungshaft. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es jedoch gerade bei derart geringen Geldbußen und ohnehin nicht für die Erzwingungshaft als solche maßgeblichen Verfahrenskosten, die die zu vollstreckende Geldbuße um ein Mehrfaches übersteigen, zunächst die Maßnahmen zur Beitreibung der Geldbuße auszuschöpfen.
  2. Eine schriftliche Zahlungsaufforderung ist in diesem Zusammenhang als Vollstreckungsversuch – auch nicht im Wege der Amtshilfe – nicht ausreichend.
  3. Auch das im Erzwingungshaftverfahren geltende Opportunitätsprinzip verhindert in einem solchen Fall eine Erzwingungshaftanordnung.

Ganz interessant – Bußgeldrecht meets Insolvenzrecht

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Eine in meinen Augen ganz interessante Frage behandelt der LG Bochum, Beschl. v. 04.12.2012 – 9 Qs 86/12 -, nämlich die Frage, ob während des Insolvenzverfahrens und des Restschuldbefreiungsverfahrens die Anordnung von Erzwingungshaft zur Erzwingung der Zahlung einer Geldbuße nach § 96 OWiG zulässig ist oder nicht. Das LG Bochum hat das – in Fortschreibung seiner bisherigen Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit einigen anderen LG, aber auch in Abweichungen von anderen LG verneint. Begründung: Auch die Anordnung von Erzwingungshaft sei beine unzulässige Maßnahme der Einzelzwangsvollstreckung im Sinne der §§ 89, 294 InsO.

„Justizirrtum – drei Monate zu lange Knast“

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Unter dem Titel „Justizirrtum – drei Monate zu lange Knast“ berichten heute die „Westfälischen Nachrichten“ über die Folgen eines Justizirrtums in Münster. Da wird gegen einen Schuldner, der sein Haus nicht weiter finanzieren kann Erzwingungshaft angeordnet, weil der Schuldner gegenüber dem Gerichtsvollzieher die „eidesstattliche Versicherung“ über seine Vermögensverhältnisse verweigert hat. Daraufhin beantragen die Gläubiger-Banken Erzwingungshaft, die auch in zwei Fällen angeordnet wird. Vollstreckt wird zunächst der erste Beschluss der Bank, nennen wir sie A. Der Schuldner geht in Haft. Nach drei Monaten verzichtet die Bank A auf weitere Erzwingungshaft. Vollstreckt wird dann vom Rechtspfleger der zweite Beschluss betreffend die Bank B. Und das – so die Meldung – noch einmal sechs Monate lang. Damit „Gesamtvollstreckung“ neun Monate, obwohl bei der Erzwingungshaft die Obergrenze von sechs Monaten gilt.

Die eingeleiteten Strafverfahren sind eingestellt worden. Haftentschädigungsanträge liegen noch nicht vor. Die werden aber sicherlich kommen. Viel kommt dabei bei gesetzlichen Sätzen von 25 €/Tag nicht herum.