Fiktive Schadensabrechnung, oder: Richterliches Schätzungsermessen und Beilackierungskosten

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So, dann füllen wir heute zum letzten Mal im Jahr 2019 den „Kessel Buntes“. Und da köchelt zunächst das BGH, Urt. v. 17.9.2019 – VI ZR 494/18.

Es geht in ihm zum Abschluss des Jahres noch einmal um die fiktive Abrechnung und/oder um das Maß notwendiger richterlicher Überzeugung im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO, und zwar, wenn es um die Berücksichtigung von sogenannten Beilackierungskosten im Rahmen fiktiver Schadensabrechnung geht.

Dazu der BGH:

„1. Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der Geschädigte eines Verkehrsunfalls, der es nach einem Sachschaden selbst in die Hand nimmt, den früheren Zustand herzustellen, berechtigt, vom Schädiger den dazu erforderlichen Geldbetrag zu verlangen. Dabei beschränkt sich das Ziel der Restitution nicht auf eine (Wieder-) Herstellung der beschädigten Sache; es besteht in umfassenderer Weise gemäß § 249 Abs. 1 BGB darin, den Zustand herzustellen, der, wirtschaftlich gesehen, der ohne das Schadensereignis bestehenden Lage entspricht (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteil vom 5. Februar 2013 – VI ZR 363/11, NJW 2013, 1151 Rn. 11 mwN). Der Geschädigte ist aufgrund seiner nach anerkannten schadensrechtlichen Grundsätzen bestehenden Dispositionsfreiheit in der Verwendung der Mittel frei, die er vom Schädiger zum Schadensausgleich beanspruchen kann. Er ist nicht dazu verpflichtet, sein Fahrzeug reparieren zu lassen (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteil vom 23. Mai 2017 – VI ZR 9/17, NJW 2017, 2401 Rn. 6 ff. mwN), sondern kann auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens fiktiv abrechnen. Die Angaben des Sachverständigen zur Höhe der voraussichtlich anfallenden Reparaturkosten bestimmen nicht verbindlich den Geldbetrag, der im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB zur Herstellung erforderlich ist. Bei fiktiver Abrechnung ist der objektiv zur Herstellung erforderliche Betrag ohne Bezug zu tatsächlich getätigten Aufwendungen zu ermitteln. Der Geschädigte, der nicht verpflichtet ist, zu den von ihm tatsächlich veranlassten oder auch nicht veranlassten Herstellungsmaßnahmen konkret vorzutragen, disponiert hier dahin, dass er sich mit einer Abrechnung auf einer objektiven Grundlage zufriedengibt (Senatsurteil vom 3. Dezember 2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535 Rn. 10).

2. Den zur Herstellung objektiv erforderlichen (ex ante zu bemessenden) Betrag hat das Gericht gemäß § 287 Abs. 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu ermitteln (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteil vom 22. Juli 2014 – VI ZR 357/13, NJW 2014, 3151 Rn. 16 f.). Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des dabei nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter erhebliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen, Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteile vom 22. Juli 2014 – VI ZR 357/13, NJW 2014, 3151 Rn. 12 mwN; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 612/15, NJW-RR 2017, 918 Rn. 7 mwN). Solche Fehler hat die Revision hier indes aufgezeigt. Zwar ist das Berufungsgericht entgegen der Ansicht der Revision zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast trifft. Es hat aber Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt und erheblichen Prozessstoff außer Acht gelassen.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht an, dass die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast für die Erforderlichkeit der Beilackierungskosten trifft. Insoweit geht es nicht um die Verletzung der Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB), für die grundsätzlich der Schädiger die Beweislast trägt, sondern um die Schadenshöhe, die der Geschädigte auch im Rahmen des § 287 ZPO – soweit nach Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift erforderlich – nach den allgemeinen Grundsätzen darzulegen und ggf. zu beweisen hat, § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB (st. Rspr., Senatsurteile vom 25. April 1972 – VI ZR 134/71, NJW 1972, 1515 unter II 1, juris Rn. 9; vom 19. Januar 2010 – VI ZR 112/09, VersR 2010, 494 Rn. 11 mwN; vom 22. Juli 2014 – VI ZR 357/13, NJW 2014, 3151 Rn. 16; zu Beilackierungskosten zutreffend LG Köln, Urteil vom 10. Mai 2016 – 11 S 360/15, juris Rn. 10; LG Bielefeld, Beschluss vom 19. Mai 2014 – 20 S 109/13, Schaden-Praxis 2014, 412 Rn. 5).

b) Das Berufungsgericht hat aber das Maß notwendiger Überzeugung im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO überspannt und damit Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt.

aa) § 287 Abs. 1 ZPO stellt an das Maß der Überzeugungsbildung des Tatrichters geringere Anforderungen als die Vorschrift des § 286 ZPO (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteile vom 25. April 1972 – VI ZR 134/71, NJW 1972, 1515 unter II 1, juris Rn. 9; vom 19. April 2005 – VI ZR 175/04, NJW-RR 2005, 897, juris Rn. 9; vom 13. September 2016 – VI ZR 654/15, NJW 2017, 1310 Rn. 21). Im Rahmen des § 286 ZPO hat der Richter seiner Überzeugungsbildung zu Grunde zu legen, dass es dafür keiner absoluten oder unumstößlichen Gewissheit im Sinne des wissenschaftlichen Nachweises, sondern nur eines für das praktische Leben brauchbaren Grades von Gewissheit bedarf, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteil vom 16. April 2013 – VI ZR 44/12, NJW 2014, 71 Rn. 8 mwN). Nach § 287 ZPO ist der Richter – im Interesse des von einer rechtswidrigen Handlung Betroffenen (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 19. März 2002 – XI ZR 183/01, NJW-RR 2002, 1072, 1973, juris Rn. 20 ff. mwN) – ermächtigt, sich mit einer mehr oder minder hohen (mindestens aber überwiegenden) Wahrscheinlichkeit zu begnügen (Senatsurteil vom 25. April 1972 – VI ZR 134/71, NJW 1972, 1515 unter II 1, juris Rn. 9; vom 12. Februar 2008 – VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9 mwN). Bei der Schadensschätzung steht ihm ein Ermessen zu, wobei in Kauf genommen wird, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 – VII ZR 84/10, NJW 2013, 525 Rn. 23).

bb) Das hat das Berufungsgericht verkannt. Es meint, ein Anspruch auf Ersatz der Beilackierungskosten könne bei fiktiver Abrechnung (von vornherein) nicht bestehen, weil sich die Erforderlichkeit der Beilackierungskosten erst nach durchgeführter Reparatur sicher beurteilen lasse. Zu Unrecht fordert es damit für die von ihm vorzunehmende Schadensbemessung eine sogar im Rahmen des § 286 ZPO nicht erforderliche absolute Gewissheit. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der fiktiven Abrechnung eines Fahrzeugschadens – auch hinsichtlich anderer Positionen – stets eine (gewisse) Unsicherheit verbleibt, ob der objektiv zur Herstellung erforderliche (ex ante zu bemessende) Betrag demjenigen entspricht, der bei einer tatsächlichen Durchführung der Reparatur angefallen wäre oder anfallen würde. Unter Hinweis auf diese verbleibende Unsicherheit darf sich ein Gericht nicht der ihm obliegenden Aufgabe entziehen, eine Schadensermittlung nach den Grundsätzen des § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmen und insoweit zu prüfen, ob ein Schaden überwiegend wahrscheinlich ist. Im Übrigen trifft nicht zu, dass – wie das Berufungsgericht meint (ebenso Balke, SVR 2017, 349) – eine Beilackierung mit der Beseitigung des Unfallschadens als solchem nichts zu tun habe. Ist eine Beilackierung zur Wiederherstellung des Zustandes erforderlich, der vor dem schädigenden Ereignis bestanden hat, ist sie ebenso Teil der Beseitigung des durch den Unfall verursachten Schadens, wie etwa der Ersatz eines beschädigten Fahrzeugteils.

c) Das Berufungsgericht hat ferner – wie die Revision zu Recht rügt – maßgeblichen Prozessstoff außer Acht gelassen, § 287 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG.

aa) Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, eine Beilackierung angrenzender Karosserieteile sei aus Sicht vor der Reparatur als erforderlich anzusehen, wenn es sich um eine Effektlackierung handele, das beschädigte Karosserieteil erneuert werden müsse, und sich ein unmittelbar angrenzendes Karosserieteil in gleicher Ebene und im optisch wahrnehmbaren Bereich befinde. Dies sei im vorliegenden Fall gegeben. Daher sei für eine fachgerechte und vollständige Instandsetzung die Beilackierung der linken Tür aus technischer Sicht als zwingend notwendig anzusehen. Zur Beseitigung restlicher Farbton- und Effektdifferenzen sei die sogenannte Beilackierung alternativlos.

bb) Damit lagen nach der von dem Amtsgericht durchgeführten Beweisaufnahme konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass im vorliegenden (Einzel-)Fall eine Beilackierung zur Wiederherstellung des vor dem Unfallereignis bestehenden Zustands objektiv erforderlich war. Mit diesem Beweisergebnis hätte sich das Berufungsgericht im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Schadensbemessung umfassend und widerspruchsfrei auseinandersetzen müssen (vgl. Senatsurteil vom 13. September 2016 – VI ZR 654/15, NJW 2017, 1310 Rn. 21 mwN). Der Hinweis auf die (isolierte) Aussage des Sachverständigen, dass sich Effektunterschiede durch die konkrete Ausrichtung der Metallics- oder Perleffektpartikel grundsätzlich erst nach Abschluss der kompletten Lackierarbeiten gesichert beurteilen ließen, reicht im Hinblick auf die weiteren – oben wiedergegebenen – Ausführungen des Sachverständigen dafür jedenfalls nicht aus. Wenn das Berufungsgericht die Darlegungen des Sachverständigen für unzureichend oder widersprüchlich hielt, hätte es auch bei freier Überzeugungsbildung auf eine Erläuterung oder Ergänzung des Sachverständigengutachtens hinwirken müssen (Senatsurteil vom 15. März 1988 – VI ZR 81/87, NJW 1988, 3016, 3017, juris Rn. 12).“

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