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Corona II: Ist ein Coronatestzertifikat eine Urkunde?, oder: Urkundenfälschung

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Die zweite Entscheidung zu Corona kommt dann heute aus dem strafrechtlichen Bereich. Das OLG Hamm hat im OLG Hamm, Beschl. v. 23.01.2024 – 4 ORs 162/23 – zur Urkundeneigenschaft eines Coronatestzertifikats Stellung genommen.

Auszugehen war von folgenden Feststellungen: Die Angeklagte erstellte „ein Coronatestzertifikat, das auf den 02.02.2021 datiert wurde und bestätigte, dass der Zeuge R am 01.02.2021 um 17:41 einen negativen Sars-CoV-2 RnA-Test vorgenommen habe. Tatsächlich nahm die Angeklagte aber keine Testung des Zeugen R vor. Zu der Ausstellung des vorgenannten Testzertifikats, das als Aussteller die Institutsambulanz Fachbereich B der LWL  Klinik in L ausweist, war die Angeklagte, wie sie wusste, nicht berechtigt. Ihr war bewusst, dass der Zeuge R. das unrichtige Testzertifikat bei der Firma pp. vorlegen würde, um die IHK-Prüfung ablegen zu können. Das vorgenannte Zertifikat stellte sie dem Zeugen R zur Verfügung, dieser reichte es am 02.02.2021 per Mail bei der Firma pp. ein und erhielt auf diesem Weg Zugang zur IHK-Abschlussprüfung.“

Auf dier Grundlage hat das LG Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB angenomme. Die Angeklagte habe im Namen der Institutsambulanz der LWL-Klinik L ein Zertifikat über einen erfolgten Coronatest betreffend den Zeugen R erstellt. Dazu sei sie nicht berechtigt gewesen. Aus dem Testzertifikat sei die Institutsambulanz als Aussteller erkennbar. Dieses Testzertifikat solle Beweis über eine stattgefundene Coronatestung erbringen und nachweisen, dass der Test negativ ausgefallen sei.

Dagegen die Revision. Das OLG Hamm hat aufgehoben und frei gesprochen:

„Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten ist zulässig und hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils weist belastende Rechtsfehler auf und hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand……

2. Das Landgericht hat danach zu Unrecht eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Urkundenfälschung (§ 267 StGB) bejaht.

Das im Urteil wiedergegebene Testzertifikat ist keine Urkunde im Sinne des Gesetzes, so dass ihre Herstellung durch die Angeklagte nicht den Tatbestand des Herstellens einer unechten Urkunde oder der Verfälschung einer echten Urkunde erfüllen kann.

Eine Urkunde ist die Verkörperung einer allgemein oder für Eingeweihte verständlichen Gedankenerklärung, die den Aussteller erkennen lässt und geeignet und bestimmt ist, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen. Aus der Urkunde muss danach der geistige Urheber erkennbar sein, also die Person, welche die Gedankenerklärung abgibt. Erkennbarkeit bedeutet, dass derjenige, der (wirklich oder scheinbar) hinter der Urkunde steht, aus ihr als Person bestimmbar ist, wobei es sich nicht um eine Einzelperson handeln muss. Die Identität muss sich zumindest für Beteiligte oder Eingeweihte aus der Urkunde selbst erschließen. Es reicht nicht aus, wenn die Feststellung nur anhand von Umständen möglich ist; die außerhalb der Urkunde liegen (vgl. BGH, Beschluss v. 23.03.2010 — 5 StR 7/10, juris Rn. 4; Fischer StGB 69. Aufl. § 267 Rn. 11 m.w.N.). Unecht ist eine Urkunde dann, wenn sie nicht von demjenigen stammt, der in ihr als Aussteller bezeichnet ist. Entscheidendes Kriterium für die Unechtheit ist die Identitätstäuschung: Über die Person des wirklichen Ausstellers wird ein Irrtum erregt; der rechtsgeschäftliche Verkehr wird auf einen Aussteller hingewiesen, der in Wirklichkeit nicht hinter der in der Urkunde verkörperten Erklärung steht (vgl. BGH, Beschluss v. 21.03.1985 — 1 StR 520/84, juris Rn. 8).

Nach diesen Maßstäben mangelt es vorliegend dem nach den Urteilsfeststellungen von der Angeklagten erstellten Testzertifikat an der Garantiefunktion, da es keinen Aussteller erkennen lässt. Soweit darin als Aussteller eine „Station: Institutsambulanz, Fachb.: B“ angegeben ist, fehlt jeglicher Bezug zur LWL-Klinik L, zumal auch ein derartiges Zertifikat nach den  Bekundungen des Zeugen K von der Klinik nicht benutzt wird, so dass sich auch aufgrund des optischen Eindrucks kein Rückschluss auf die LWL-Klinik L als Aussteller ziehen lässt.

Die auf dem Testzertifikat enthaltenen Angaben, die ggf. auf einen Aussteller hindeuten könnten, reichen schließlich auch nicht aus, um in hinreichender Form auf einen – konkreten – fiktiven Aussteller zu schließen. Die tatsächliche Existenz des scheinbaren Ausstellers ist weder für die Frage der Ausstellererkennbarkeit noch für die Frage der Täuschung über die Ausstelleridentität Voraussetzung (vgl. OLG Gelle, Beschluss v. 19.10.2007 — 32 Ss90/07, juris Rn. 37; BGH, Urteil v. 27.09.2002 — 5 StR 97/02, juris Rn. 15). Es handelt sich vorliegend aber bei den Ausstellerangaben insgesamt um Allerweltsbezeichnungen mit erkennbar fehlender Individualisierung. Es wird dabei gerade nicht auf einen bestimmten Aussteller verwiesen.

3. Die Angeklagte hat sich auch nicht nach §§ 277, 278 StGB a.F. strafbar gemacht, da das als Gesundheitszeugnis anzusehende Testzertifikat nach den Feststellungen nicht zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft ausgestellt worden ist, so dass die Tatbestandsvoraussetzungen nicht gegeben sind.

4. Das angefochtene Urteil kann daher aus Rechtsgründen keinen Bestand haben und war gemäß § 353 Abs. 1 StPO aufzuheben.

Es ist aufgrund der erfolgten Inaugenscheinnahme des Testzertifikats seitens des Senats sicher auszuschließen, dass sich die Feststellung, dass das Testzertifikat die LWL-Klinik Lals Aussteller ausweist, anderweitig treffen lässt. Darüber hinaus kann der Senat auch sicher ausschließen, dass eine Urkundeneigenschaft des Testzertifikats aufgrund eines fiktiven Ausstellers angenommen wird.

Da somit auszuschließen ist, dass weitere erhebliche Feststellungen nach einer Zurückverweisung möglich sind und die Aufhebung des Urteils nur wegen fehlerhafter Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt erfolgt, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 354 Abs. 1 StPO) und die Angeklagte aus sachlich-rechtlichen Gründen freisprechen.“

Vollstreckung I: Teilnahme am Anhörungstermin, oder: (Wirksamer) Teilnahmeverzicht des Verurteilten?

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Und heute dann drei Entscheidungen aus Vollzug und Vollstreckung.

Zunächst hier zwei verfahrensrechtliche Entscheidungen zur Anhörungs(pflicht), wenn es um den weiteren Vollzug einer Maßregel geht, und zwar:

In der Ablehnung der Teilnahme eines Verurteilten an einem Anhörungstermin kann ein ausdrücklicher Verzicht im Sinne des § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO nicht erblickt werden.

Beruht ein Verzicht eines Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus auf eine persönliche mündliche Anhörung im Gericht allein auf schwerwiegenden gesundheitlichen Gründen (hier: Gefahr des Eintritts eines akuten psychiatrischen Notfalls durch die Anhörung außerhalb der Klinik), so liegt kein freiwilliger Verzicht vor. Die Strafvollstreckungskammer muss dann – in Ermangelung anderer Alternativen – den Untergebrachten ggf. in der Klinik mündlich anhören.

Vollstreckung III: Widerruf von Strafaussetzung, oder: Vertrauenstatbestand

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Und die dritte Entscheidung kommt heute dann auch vom OLG Hamm. Das hat im OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.2023 – 3 Ws 478/23 – im Rahmen einer Beschwerde gegen eine Widerrufsentscheidung zum ggf. dem Widerruf entgegenstehenden Vertrauenstatbestand Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„Ein dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung entgegenstehender Vertrauenstatbestand kann gegeben sein, wenn zum Zeitpunkt der nachträglichen Gesamtstrafenbildung bereits bekannt war, dass die verurteilte Person zeitlich nach der Verhängung der im Gesamtstrafenbeschluss zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist und der Richter die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe dennoch zur Bewährung aussetzt. Das gilt aber nur dann, wenn der Verurteilte entweder davon Kenntnis hatte, bei Abfassung des Gesamtstrafenbeschlusses dem Gericht die neue Verurteilung bekannt war oder er aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte hiervon ausgehen durfte.“

Vollstreckung I: Zulässigkeit einer Abstinenzweisung; oder: Zulässigkeit beim Suchtkranken?

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Und heute dann einige vllstreckungsrechtliche OLG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 25.05.2023 – III 2 Ws 67/23 – zur Frage der Zulässigkeit einer sog. Abstinenzweisung bei einem Suchtkranken. Das OLG sagt – wie die h.M. – unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG:

„Nach § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB kann das Gericht einer verurteilte Person für die Dauer der Führungsaufsicht oder für eine kürzere Zeit anweisen, keine alkoholischen Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich zu nehmen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen Gründe für die Annahme bestehen, dass der Konsum solcher Mittel zur Begehung weiterer Straftaten beitragen wird, und sich Alkohol- oder Suchtmittelkontrollen zu unterziehen, die nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden sind. Eine solche Abstinenzweisung kommt vor allem für im Vollzug erfolgreich behandelte rauschmittelabhängige Probanden in Betracht. Problematisch ist ein Konsumverbot hingegen bei Personen, die eine langjährige, nicht (erfolgreich) therapierte Suchtmittelabhängigkeit aufweisen. Voraussetzung ist zunächst, dass bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Rauschmittelkonsum zur Gefahr weiterer Straftaten beitragen könnte. Maßgeblich ist nicht das Rückfallrisiko an sich, sondern die Wahrscheinlichkeit eines „Beitrags“ zu strafbaren Handlungen, zum Beispiel auch die Gefahr von Beschaffungskriminalität (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 68b Rn. 14). Demgemäß muss eine solche Weisung geeignet sein, den mit ihr angestrebten Zweck zu erreichen, wobei bereits die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Bei einer Abstinenzweisung muss also die Möglichkeit bestehen, dass Straftaten unterbleiben, die im Fall weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten wären. Ungeeignet wäre eine Abstinenzweisung hingegen, wenn eine Verminderung des Risikos der Begehung weiterer Straftaten aufgrund dieser Weisung ausgeschlossen werden kann (BVerfG, Beschluss vom 30.03.2016 – 2 BvR 496/12, NJW 2016, 2170, 2171).

Mit einer entsprechenden Abstinenzweisung dürfen zudem nach § 68b Abs. 3 StGB keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten gestellt werden. Die Abstinenzweisung muss erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn sein. Letzteres bedeutet, dass sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten darf, sondern diesem zumutbar sein. Insoweit stellt § 68b Abs. 3 StGB eine einfachgesetzliche Ausprägung der sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen dar. Die Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in die Grundrechte des Betroffenen einzugreifen, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter des Betroffenen voraus. Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Abstinenzweisung strafbewehrt ist. Insoweit unterscheidet sich die Abstinenzweisung im Rahmen der Führungsaufsicht von einer Weisung im Rahmen der Bewährungsaussetzung gern. § 56c StGB, sodass an eine Abstinenzweisung gern. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Da im Fall der Verletzung einer Abstinenzweisung gern. § 68 b I Nr. 10 StGB die Möglichkeit der Verhängung einer Strafe als der schärfsten dem Staat zur Verfügung stehenden Sanktion besteht (vgl. § 145 a StGB), kann von dem Betroffenen die Hinnahme des damit verbundenen ethischen Unwerturteils im allgemeinen nur erwartet werden, wenn er überhaupt in der Lage ist, sich normgerecht zu verhalten, und der Schutz überwiegender Interessen anderer oder der Allgemeinheit eine strafrechtliche Sanktionierung gebietet. Von der Verhältnismäßigkeit einer Abstinenzweisung gern. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB wird regelmäßig auszugehen sein, wenn diese gegenüber einer ohne Weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähigen Person angeordnet wird und im Fall des erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der All-gemeinheit betreffender Straftaten zu rechnen ist. Wenn der Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln lediglich vorn Willen und der charakterlichen Festigkeit des Weisungsunterworfenen abhängt, ist es ohne Weiteres zumutbar, für die Dauer der Führungsaufsicht zur Vermeidung weiterer Straftaten einen solchen Verzicht einzufordern. Anders verhält es sich demgegenüber im Fall eines nicht oder erfolglos therapierten langjährigen Suchtkranken. Ungeachtet der Tatsache, dass § 68 b Abs. 1 Nr. 10 StGB nicht zwischen erfolgreich therapierten und nichttherapierten Suchtkranken unterscheidet, stellt sich die Frage der Zumutbarkeit des Verzichts auf den Konsum von Suchtmitteln in beiden Fällen unterschiedlich dar. Für den Suchtkranken beinhaltet die Abstinenzweisung eine deutlich schwerere Belastung. Dennoch wird auch in diesen Fällen nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden können, dass die Weisung, auf den Konsum von Suchtmitteln zu verzichten, unzumutbar ist. Vielmehr ist auch insoweit eine Abwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls erforderlich. Dabei sind insbesondere die Fragen, in welchem Umfang überhaupt die Aussicht besteht, den mit einer Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der Suchtkranke sich (wenn auch erfolglos) Therapieangeboten geöffnet hat und welche Straftaten im Fall weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind, in die Abwägung einzustellen. Jedenfalls in Fällen, in denen ein langjähriger, mehrfach erfolglos therapierter Suchtabhängiger aufgrund seiner Suchtkrankheit nicht zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage ist und von ihm keine die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erheblich beeinträchtigenden Straftaten drohen, ist eine strafbewehrte Abstinenzweisung gem. § 68 b I Nr. 10′ StGB als unzumutbare Anforderung an die Lebensführung iSv § 68 b III StGB und damit zugleich als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit anzusehen (vgl. BVerfG, NJW 2016, 2170 Rn. 18-26, beck-online).

Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes kann die unter Ziff. 1. d) erteilten Abstinenzweisung in dem Beschluss der 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 08.11.2022 (BI. 19 ff. FA-Heft) nach dem bisherigen Sach- und Verfahrensstand keinen Bestand haben.

…..

2. Indes beruht die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf einer rechtsfehlerhaften Ermessensausübung bzgl. der Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Der angefochtene Beschluss unter Ergänzung durch die Nichtabhilfeentscheidung beruht hinsichtlich der Weisung unter Ziff. 1. d) – unter Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht – auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage und entbehrt daher der vorliegend erforderlichen vertieften Begründung.

Die Strafvollstreckungskammer hat im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht die für ihre Entscheidungsfindung maßgeblichen Tatsachen festzustellen und in eine ordnungsgemäße Ermessensabwägung einzubeziehen. Das Institut der Führungsaufsicht nach § 68f StGB hat nämlich die Aufgabe, gefährliche oder (rückfall)gefährdete Täter in ihrer Lebensführung in Freiheit über gewisse kritische Zeiträume hinweg zu unterstützen und zu überwachen, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten. Führungsaufsicht soll damit nicht nur Lebenshilfe für den Übergang von der Freiheitsentziehung in die Freiheit geben, sondern auch den Verurteilten führen und überwachen. Wenn diese umfassende Sozialisierungshilfe wirksam sein soll, setzt dies Weisungen voraus, die auf den Täter, die Tat(en), deretwegen er verurteilt wurde, und -damit zusammenhängend – auf die von ihm ausgehende Gefährlichkeit hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten möglichst genau abzustimmen sind. Um dieser kriminalpolitischen Zielsetzung gerecht zu werden, ist eine Schematisierung der zu erteilenden Weisungen nicht möglich (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 27.03.2008 – 2 Ws 147/08, NStZ 2008, 572)……“

Wegen der Einzelheiten des konkreten Falles dann bitte im verlinkten Volltext weiterlesen.

Wenn die Kostengrundentscheidung für Auslagen fehlt, oder: Umdeutung des Kostenfestsetzungsantrages?

Und als zweite, na ja, dritte, Entscheidung des Tages kommt hier der OLG Hamm, Beschl. v. 14.11.2023 – 3 Ws 376/23 – zur Umdeutung eines Kostenfestsetzungsantrages, eine Problematik, die die Gerichte immer mal wieder beschäftigt. Denn die Umdeutung eines Kostenfestsetzungsantrages in eine sofortige Beschwerde gegen eine Kostengrundentscheidung ist häufig die einzige Möglichkeit ggf. vielleicht doch noch nachträglich die „Nachholung“ einer „vergessenenW Auslagenentscheidung zu erreichen.

So auch hier. Der Angeklagte war vom AG vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen worden. Dagegen hatte der Nebenkläger Berufung eingelegt, die er in der Berufungshauptverhandlung zurück genommen hat. Darauf hat das LG eine Entscheidung getroffen, die im Sitzungsprotokoll wie folgt wiedergegeben ist: „Der Nebenkläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, nachdem er die Berufung zurückgenommen hat.“ Anschließend ist im Protokoll vermerkt: „Es wurde auf Rechtsmittelbelehrung und Rechtsmittel gegen diesen Beschluss verzichtet. Vorgelesen und genehmigt.

Mit seiner Beschwerde wendet sich nun der Angeklagte, der vergblich versucht hat, seine Auslagen festsetzen zu lassen, gegen die protokollierte Entscheidung. Das OLG hat die sofortige Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen:

„Die sofortige Beschwerde ist unzulässig.

1. Statthaftes Rechtsmittel gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung ist gem. § 464 Abs. 3 StPO die sofortige Beschwerde. Diese hat der Angeklagte entgegen § 311 Abs. 2 StPO nicht innerhalb einer Woche ab Bekanntgabe eingelegt. Die Frist begann gem. § 35 mit Verkündung in der Berufungshauptverhandlung am 9. Juni 2022, in der der Angeklagte und sein Verteidiger anwesend waren. Mithin lief die Frist am 16. Juni 2022 ab. Der Angeklagte hat jedoch erst mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 7. April 2023, also nach Fristablauf, gegenüber dem Landgericht erklärt, höchst vorsorglich und hilfsweise sofortige Beschwerde gegen die Kostengrundentscheidung zu erheben.

2. Zwar hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 13. Juni 2022 innerhalb der Beschwerdefrist gegenüber dem Amtsgericht Kostenfestsetzung beantragt. Solche innerhalb der Beschwerdefrist gestellten Kostenfestsetzungsanträge werden von der Rechtsprechung gelegentlich als sofortige Beschwerden gegen die Kostengrundentscheidung ausgelegt (vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Auflage 2023, § 464, Rn. 12).

Im vorliegenden Fall scheidet eine solche Umdeutung indes mangels hinreichend erkennbaren Willens des Verurteilten, gegen die Kostengrundentscheidung vorzugehen, aus (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 2004 – 5 Ws 696/03 -, juris). Denn er hat seinen Kostenfestsetzungsantrag durchgehend darauf stützen lassen, am Schluss der Hauptverhandlung sei eine – der gesetzlichen Regelung in § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO entsprechende – Auslagenentscheidung zu seinen Gunsten getroffen worden. Für eine Abänderung der Kostenentscheidung durch das Rechtsmittelgericht ist demnach kein Raum.

So hat er seinen Kostenfestsetzungsantrag mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14. Juli 2022 u. a. damit begründet, „… dass es eine solche Entscheidung [über die notwendigen Auslagen des Angeklagten betreffend die zweite Instanz] gibt. Am Ende der Berufungshauptverhandlung hat die Berufungskammer die notwendigen Auslagen des Angeklagten für das Berufungsverfahren dem Nebenkläger auferlegt…“. Mit weiterem Schriftsatz vom 7. April 2023 hat er Protokollberichtigung beantragt und auch in diesem Antrag ausgeführt: „… Im Anschluss beschloss die Frau Vorsitzende, dass die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen dem Nebenkläger auferlegt werden. Genau aus diesem Grunde habe ich unmittelbar im Nachgang zum HVT mit Schriftsatz vom 13.06.2022 … beantragt, die notwendigen Auslagen des Angeklagten betreffend die zweite Instanz gegen den Nebenkläger festzusetzen. … All dieser Schriftverkehr … unmittelbar im Nachgang zum Hauptverhandlungstermin wäre völlig sinnlos gewesen, wenn es eine solche Entscheidung tatsächlich (mündlich) nicht gegeben hätte…“ Daran hat er selbst in seiner Gegenerklärung zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 2. November 2023 festgehalten: „Aus § 473 Abs. 1. S. 3 StPO ergibt sich die zwingende gesetzliche Folge, dass, wenn allein der Nebenläger ein Rechtsmittel eingelegt oder durchgeführt hat, ihm die dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten (Angeklagten) aufzuerlegen sind. Genau diese Entscheidung wurde – anders als im Protokoll niedergeschrieben – getroffen. Es wäre mehr als sinnfrei, wenn der Angeklagte bei einer solchen Konstellation und einer solchen (vermeintlichen) Kostenentscheidung auf Rechtsmittel verzichten würde. Damit wäre auch keinesfalls in Einklang zu bringen, dass am 13.06.2022 für den am 09.06.2022 stattgefundenen HVT von Seiten der Verteidigung ausdrücklich beantragt wurde, die ‚Gebühren und Auslagen der zweiten Instanz gegen den Nebenkläger festzusetzen‘“. Beanstandet wird damit nicht die Unrichtigkeit der Kostengrundentscheidung, sondern ihre Wiedergabe im Protokoll und die darauf beruhende, aus Sicht des Angeklagten falsche Behandlung des Kostenfestsetzungsantrags.

3. Auch eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wochenfrist zur Erhebung der sofortigen Beschwerde gem. §§ 44, 45 StPO scheidet aus. Denn der Angeklagte hat entgegen § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht dargetan, ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen zu sein.

Zwar ist die Versäumung der Frist gem. § 44 Satz 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn eine Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Verteidigung auf die Rechtsmittelbelehrung verzichtet hat (Schmitt, a. a. O., § 44, Rn. 22). Daran bestehen hier keine Zweifel. Der Verzicht ist nicht nur in das Protokoll über die Berufungshauptverhandlung aufgenommen, vorgelesen und genehmigt worden, so dass er an der förmlichen Beweiskraft des Protokolls gem. §§ 274, 273 Abs. 3 Satz 1 StPO teilnimmt. Er wird darüber hinaus von der Verteidigung – wie erörtert – ausdrücklich auch als Beleg dafür herangezogen, dass am Schluss der Hauptverhandlung eine Auslagenentscheidung zu Gunsten des Angeklagten getroffen worden ist.“

Tja, das war es dann. Voraussetzung für eine Umdeutung ist eben ein hinreichend erkennbarer Willen des Verurteilten gegen die Kostengrundentscheidung vorzugehen (neben KG, Beschl. v. 26.02.2004 – 5 Ws 696/03 u.a. auch KG, Beschl. v. 14.08.2007 – 1 AR 1086/071 Ws 107/07; OLG Rostock, Beschl. v. 11.04.2008 – 5 W 63/08). Das wird aber insbesondere dann verneint, wenn der Antragsteller zu erkennen gibt, dass er erst im Kostenfestsetzungverfahren auf das Fehlen einer Kostengrundentscheidung hingewiesen wurde und ihm dies zunächst nicht aufgefallen ist. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, ob es sich um eine rechtskundige Person, wie z.B. hier ein Rechtsanwalt, handelt.

Und: Vorsicht ist geboten, wenn in der Hauptverhandlung auf Rechtsmittel verzichtet wird. Denn ein Rechtsmittelverzicht ist endgültig. Wiedereinsetzung ist, wenn der Verzicht dann ins Protokoll aufgenommen worden ist, nicht mehr möglich.