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Strafzumessung I: Bemessung der Jugendstrafe, oder: Anrechnung von vollstrecktem Beugearrest

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Und heute dann mal wieder Strafzumessungsentscheidungen.

Zunächst hier zum JGG der BGH, Beschl. v. 19.09.2023 – 3 StR 216/23 – zur Anrechenbarkeit von vollstrecktem Beugearrest bei Verhängung einer neuen Einheitsjugendstrafe.

Das LG hat den Angeklagten unter Einbeziehung eine Urteils des AG aus Oktober 2020 wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Diebstahls, versuchten Diebstahls in zwei Fällen, Besitzes von Betäubungsmitteln und Hausfriedensbruchs zu einer zur Bewährung ausgesetzten Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Auf die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat der BGH den Strafausspruch ergänzt.

„Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat zum Schuldspruch keinen dem Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben. Der Strafausspruch ist allein insofern rechtsfehlerhaft, als das Landgericht die Prüfung der Anrechnung von in dem Verfahren des einbezogenen Urteils vollstreckten Arrestzeiten nach § 31 Abs. 2 Satz 2 JGG verabsäumt hat. Bei dieser Ermessensentscheidung wäre über den – im Antrag des Generalbundesanwalts zutreffend benannten – verbüßten mit diesem Urteil festgesetzten Freizeitarrest von zwei Tagen hinaus allerdings auch ein verbüßter Beugearrest von einer Woche zum Gegenstand der Prüfung zu machen gewesen; diese Maßnahme hatte das Amtsgericht Wesel nachträglich durch Beschluss vom 18. August 2021 gemäß § 15 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 11 Abs. 3 Satz 1 JGG angeordnet, weil der Angeklagte eine mit dem Urteil erteilte Auflage schuldhaft nicht erfüllt hatte (zur gleichgelagerten Frage der Einbeziehung eines unerledigten Beugearrestes in eine neue Einheitsjugendstrafe vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2009 – 3 StR 177/09, juris Rn. 2; für eine Anrechenbarkeit weiterhin LG Limburg, Beschluss vom 7. Mai 2021 – 2 Qs 56/21, NStZ-RR 2021, 189 f.; Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 26a Rn. 26, § 31 Rn. 51; NK-JGG/Ostendorf, 11. Aufl., § 31 Rn. 23; Meier/Rössner/Trüg/Wulf, JGG, 2. Aufl., § 26 Rn. 13; Schady, ZIS 2015, 593, 596 ff.; aA BeckOK JGG/Schlehofer, 30. Ed., § 31 Rn. 47a f.; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 31 Rn. 43; Brunner/Dölling, JGG, 14. Aufl., § 31 Rn. 39).

Entscheidend für eine grundsätzliche Anrechenbarkeit auch von Beugearresten spricht trotz aller Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Arrestformen die Erwägung, dass hierdurch dem Einheitsprinzip am besten Rechnung getragen wird (vgl. LG Limburg, Beschluss vom 7. Mai 2021 – 2 Qs 56/21, NStZ-RR 2021, 189, 190; Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 26a Rn. 26). Dieses soll eine verhältnismäßige jugendstrafrechtliche Sanktion, die auf den aktuell erzieherisch erforderlichen Einwirkungsbedarf abgestimmt ist, sicherstellen und eine Mehrheit sich womöglich widersprechender oder miteinander unverträglicher Sanktionen verhindern (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 31 Rn. 3; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 31 Rn. 3; Streng, Jugendstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 266; Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, 16. Aufl., Rn. 279, 281). Das Gegenargument, der Beugearrest sei aufgrund seiner abweichenden Rechtsnatur nicht anrechnungsfähig (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 31 Rn. 43; BeckOK JGG/Schlehofer, 30. Ed., § 31 Rn. 47a f.), überzeugt indessen nicht. Die formalen Umstände, dass derselbe außerhalb des Urteils durch Beschluss verhängt wird und unmittelbar ein anderes Sanktionsbedürfnis erfüllen soll, besagen nicht, dass er als mit der durch Urteil bestimmten Weisung oder Auflage untrennbar verbundene, mithin akzessorische Maßnahme (vgl. Schady, ZIS 2015, 593, 597; vgl. auch LG Limburg, Beschluss vom 7. Mai 2021 – 2 Qs 56/21, NStZ-RR 2021, 189, 190: „aus Anlass einer Tat“) bei der Bestimmung der verhältnismäßigen jugendstrafrechtlichen Sanktion keine Berücksichtigung finden darf.

Der Senat holt die gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG erforderliche Anrechnungsentscheidung nach und ordnet, um jedwede Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen, die Anrechnung beider verbüßten Arrestzeiten auf die erkannte Einheitsjugendstrafe an (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Oktober 2013 – 4 StR 409/13, juris Rn. 2; vom 15. März 2016 – 4 StR 15/16, juris Rn. 2).

Angesichts des geringfügigen Erfolgs der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten insgesamt mit den Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Anrechnung, so die „geballte OLG_Intelligenz“

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.-10.2023 – 1 Ws 200/23. Eine – in meinen Augen – „Besserwisserentscheidung“ eines OLG, das die vorhergehenden richtigen Entscheidungen des AG Speyer., Beschl. v. 23.03.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 und des AG Speyer, Beschl. v. 05.04.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19  und des LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23, über die ich ja jeweils hier auch berichtet habe (vgl. u.a. Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung, sagt auch das LG Frankenthal).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Dem Beschuldigten ist der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flory für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Nach Abrechnung der insoweit entstandenen gesetzlichen Gebühren ist der Kollege dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 21.o4.2021 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dafür sind dann seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt vom AG festgesetzt worden: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Staatskasse hatte keinen Erfolg (das sind die o.a.  AG Speyer Beschlüsse). Gegen den Beschluss des AG hat die Staatskasse natürlich Beschwerde eingelegt. Diese hat das LG Frankenthal mit dem LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23 – zurückgewiesen.

Solche Entscheidungen lassen die Vertreter der Staatskasse dann natürlich nicht ruhen. Und er hat weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit beim OLG Erfolg:

„Das Rechtsmittel der Vertreterin der Landeskasse ist gern. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die im Beschlussausspruch genannten Entscheidungen des Amtsgerichts Speyer und des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) sind rechtsfehlerhaft.

Der Verteidiger ist demselben Angeklagten in demselben Strafverfahren während des Ermittlungsverfahrens zweimal beigeordnet worden. In diesem Fall stellt ein und dasselbe Strafverfahren – jedenfalls für jede Instanz – immer ein und dieselbe Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG dar (OLG Celle, Beschluss vom 25.08.2010, 2 Ws 303/10, Rn. 14; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.2013, III 1 Ws 416/13, juris, Rn. 6; LG Landshut, Beschluss vom 23.03.2010, 2 Qs 326/09, juris, Rn. 15; für das Revisionsverfahren: OLG München, Beschluss vom 21.01.2008, 4 Ws 3/08 <K>, juris, Rn. 7). Die von dem Rechtsanwalt übernommenen Aufgaben sind für die Beurteilung unerheblich, soweit sie in demselben Verfahren wahrgenommen werden (OLG Celle a.a.O., Rn. 11). Die mehrfache Beauftragung eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit regelt § 15 Abs. 5 RVG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift erhält der Rechtsanwalt, der in einer Angelegenheit, in der er bereits vorher tätig war, weiter tätig wird, nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vomherein hiermit beauftragt worden wäre. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Im vorliegenden Fall liegen zwischen den beiden Beiordnungen durch das Amtsgericht Speyer keine zwei Jahre mit der Folge, dass der Verteidiger nur die Gebühren abrechnen kann, die er hätte abrechnen können, wenn er bereits am 16.12.2020 umfassend als Pflichtverteidiger beigeordnet worden wäre.

Der Umsetzung dieser Rechtslage steht auch nicht die Rechtskraft des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 06.04.2021 entgegen; denn der Inhalt dieses Beschlusses hindert die Anrechnung der bereits zuerkannten Gebühren und Auslagen auf den weiteren Gebühren- und Auslagenanspruch des Verteidigers nicht.

Wie gesagt: „Besserwisserentscheidung. Denn das OLG liegt falscg, die AG und LG-Entscheidungen waren richtig. Das OLG übersieht, dass die Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur für die „Dauer der Vernehmung der Zeugin“ erfolgt, also zeitlich beschränkt, ist. Sie war mit der Vernehmung beendet und es ist eine neue Beiordnung erfolgt. Es handelt sich also nicht um dieselbe Angelegenheit i.S. des § 15 RVG. Insofern übersieht das OLG auch, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts während der Dauer einer Vernehmung etwas anders ist als Verteidigertätigkeit im Erkenntnisverfahren. Die vom OLG angeführte Rechtsprechung stützt die falsche Auffassung des OLG im Übrigen nicht. Denn die den zitierten Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalte sind mit der hier entschiedenen Konstellation nicht zu vergleichen. Denn es handelt sich u.a. um Fragen der Nebenklage und/oder der Vertretung mehrerer Adhäsionskläger. Da spielen m.E. ganz andere Fragen eine Rolle. Das OLG sieht es offenbar anders. Schade, aber gegen die geballte Intelligenz (?) eines OLG-Senats kommt man (kaum) an.

Strafzumessung III: Anrechnung von Auslieferungshaft, oder: Besuch der Großmutter ist keine Flucht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Thematik, zu der ich hier noch nicht so ganz häufig berichtet habe, und zwar Anrechnung einer im Ausland erlittenen Auslieferungs-/Untersuchungshaft.

Das LG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung hinsichtlich erlittener Auslieferungshaft getroffen hat. U.a. die Anrechnungsentscheidung hat dem BGH nicht gefalle. Er führt dazu im BGH, Beschl. v. 06.07.2023 – 2 StR 8/23:

„2. Hingegen hält der Ausspruch des Landgerichts, mit dem das Landgericht die in der Zeit vom 18. Juli 2021 bis 3. August 2021 in Kroatien erlittene Untersuchungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Haftbedingungen des Angeklagten – nicht zuletzt aufgrund seiner bosnischen Abstammung – schlecht waren und hat damit zu erkennen gegeben, dass abweichend von der in einem EU-Staat und damit auch in Kroatien im Allgemeinen zu erfolgenden Anrechnung im Verhältnis 1:1 (vgl. zuletzt zu Kroatien BGH, Beschluss vom 21. Juni 2018 – 4 StR 499/17) ausnahmsweise ein anderer Maßstab in Betracht kommen könnte. Es hat im Ergebnis aber davon abgesehen so zu verfahren, weil der Angeklagte selbst dafür verantwortlich gewesen sei, dass er ausgerechnet in Kroatien eine Freiheitsentziehung erlitten habe. Durch den Antritt einer Reise nach Kroatien habe er begründeten Anlass zu der Sorge gegeben, er werde sich dem Verfahren dauerhaft nicht stellen. Selbst wenn er nicht von dem Haftbefehl gewusst haben sollte, sei dem Angeklagten doch bewusst gewesen, dass dieses Verhalten geeignet gewesen sei, den Haftgrund der Fluchtgefahr zu begründen.

Mit dieser Begründung durfte die Strafkammer dem Angeklagten eine möglicherweise angezeigte Anrechnung der Auslieferungshaft in einem anderen Verhältnis als 1:1 nicht versagen. Nach § 51 Abs. 1 Satz 2 StGB kann das Gericht ausnahmsweise anordnen, dass eine Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. Ein Verhalten, das eine solche Versagung rechtfertigen könnte, ist aber nicht ersichtlich. Die Reise nach Kroatien diente nach der unwiderlegt gebliebenen Einlassung dem Besuch seiner 92-jährigen Großmutter, wobei der Angeklagte angegeben hat, von dem Verfahren gewusst zu haben, er aber keineswegs habe fliehen wollen. Ein Fluchtversuch ist bei dieser Erklärung nicht dargetan; zudem ist durch die daraufhin erfolgte Inhaftierung keine Verschleppung des Verfahrens – was auch bei einem Fluchtversuch oder Fluchtvorbereitungen für eine Versagung vonnöten wäre – belegt (vgl. BGH NJW 1970, 1752, 1753 = BGHSt 23, 307).“

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung, sagt auch das LG Frankenthal

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Nach dem „Reparaturpost“ von heute Morgen – siehe Rückwirkende Aufhebung der “Pflichtibestellung”, oder: OLG Nürnberg sagt dem LG Amberg, wie es geht – hier jetzt der Bestätigungspost.

Ergangen ist die „Bestätigungsentscheidung“ in dem Verfahren, in dem das AG Speyer mit dem AG Speyer, Beschl. v. 27.3.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 – und dem AG Speyer, Beschl. v. 5.4.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 – zu den Gebühren des Pflichtverteidigers entschieden hatte. Ich erinnere an den Sachverhalt:

Dem Beschuldigten ist der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flory für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Nach Abrechnung der insoweit entstandenen gesetzlichen Gebühren ist der Kollege dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 21.o4.2021 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dafür sind dann seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt vom AG festgesetzt worden: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Staatskasse hatte keinen Erfolg (das sind die o.a.  AG Speyer Beschlüsse). Gegen den Beschluss des AG hat die Staatskasse natürlich Beschwerde eingelegt. Diese hat das LG Frankenthal mit dem LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23 – zurückgewiesen:

„Die Kammer teilt die Auffassung des Erstgerichts und tritt den Gründen der angefochtenen Entscheidung, die ihrerseits auf den Beschluss des Amtsgerichts Speyer vom 27.03.2023 Bezug genommen hat, vollumfänglich bei.

Ergänzend bemerkt die Kammer: Soweit die Bezirksrevisorin in ihrer Stellungnahme vom 20.01.2023 (BI. 422 ff. d.A.) auf die Entscheidung des Landgerichts Mannheim vom 21.01.2019 (BI. 426 ff. d.A.) rekurriert, ist die Kammer der Auffassung, dass die der Entscheidung zugrunde-liegende Konstellation mit der hiesigen nicht vergleichbar ist, da vorliegend der Geltendmachung der Gebühren eine (erste) Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO am 16.12.2020 und eine mehrere Monate später (am 21.04.2021) erfolgte vollumfängliche Beiordnung zugrunde liegt.

Sofern der Rechtsanwalt nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, handelt es sich jedoch nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um Tätigkeiten im Sinne von VV Teil 4 Abschnitt 1 RVG mit der Folge, dass der Rechtsanwalt dann ggf. Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühr verdient (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 25. Aufl. 2021, RVG VV 4301 Rn. 15).

Aus diesem Grund scheidet jedoch nach Auffassung der Kammer eine „Deckelung“ der Gebühren nach § 15 Abs. 6 RVG mangels Vorliegen von Einzelhandlungen im Sinne der vorgenannten Vorschrift vorliegend aus.

Wie bereits im Beschluss des Amtsgerichts Speyer vom 27.03.2023 ausgeführt, kommt nach Auffassung der Kammer – entgegen den Ausführungen der Bezirksrevisorin in ihrer Stellungnahme vom 23.06.2023 (BI. 442 ff. d.A.) – auch eine Anrechnung nicht in Betracht, da es sich bei der nachfolgenden Beiordnung vom 21.04.2021 nicht um dieselbe Angelegenheit handelt.

Aufgrund des Umstandes, dass diese Rechtsfrage nach Auffassung der Kammer grundsätzliche Bedeutung hat, ist die weitere Beschwerde zugelassen worden.“

Man darf gespannt sein, ob die Staatskasse in die weitere Beschwerde geht. Im Zweifel ja, denn einen solchen Beschluss wird man „nicht hinnehmen“.

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung der „beschränkten“ Gebühren

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Und dann vor dem langen Wochenende noch ein wenig Gebührenrecht. Ich beginne mit dem AG Speyer, Beschl. v. 27.3.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 – und dem AG Speyer, Beschl. v. 5.4.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19. Das eine ist der Nichtabhilfebeschluss des AG, das andere die auf die Erinnerung hin ergangene Entscheidung des Amtsrichters. Ich stelle beide hier ein, und zwar eben auch den nur kurz begründeten Beschluss des Amtsrichters, weil er sich die Begründung des Nichtabhilfebeschlusses zu eigen gemacht hat, also auch die Auffassung des KFB hat.

Es geht um folgenden Sachverhalt:  Dem Beschuldigten wurde der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flore, der mir die Entscheidung geschickt hat, für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Der Beschluss wurde dem Kollegen zusammen mit der Terminsbestimmung zur Zeugeneinvernahme am 08.01.2021 zugestellt. Der Kollege nahm am 11.01.2021 Akteneinsicht. Er hat an der nichtöffentlichen Sitzung vor dem Ermittlungsrichter am 28.01.2021 teilgenommen.

Für seine Tätigkeit hat er am 02.02.2021 Kostenfestsetzung beantragt. Das AG hat eine Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, eine Terminsgebühr Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG sowie Auslagen festgesetzt.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 12.04.2021 wurde dem Beschuldigten sodann mit Beschluss vom 21.04.2021 der Kollege als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nahm er am 07.05.2021 und 17.08.2021, auch jeweils auf Hinweis der Staatsanwaltschaft, erneut Akteneinsicht. Nach Anklagerhebung haben zwei Hauptverhandlungstermine stattgefunden, an denen der Rechtsanwalt teilgenommen hat.

Nach Eintritt der Rechtskraft des ergangenen Urteils hat der Kollege beantragt, seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt festzusetzen: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Das AG hat die Gebühren antragsgemäß festgesetzt.

Dagegen hat die Vertreterin der Staatskasse Erinnerung eingelegt und beantragt, die Gebühren für das Ermittlungsverfahren anzurechnen. Dazu hat sie auf den LG Mannheim, Beschl. v. 21.01.2019 – 5 Qs 61/18 – verwiesen. Das AG hat der Erinnerung mit Beschluss vom 27.03.2023 nicht abgeholfen.

Das AG führt aus:

„Eine Anrechnung von Gebühren kommt auch nicht nach § 15 Abs. 5 RVG in Betracht, der in bestimmten Fällen eine Anrechenbarkeit zuließe.

Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Rechtsanwalt, nachdem er in einer Angelegenheit tätig geworden ist, beauftragt wird, in derselben Angelegenheit weiter tätig zu werden. Sodann darf dieser nicht mehr an Gebühren erhalten, als der Rechtsanwalt erhielte, wenn dieser von vornherein hiermit beauftragt worden wäre.

Den Begriff „derselben Angelegenheit“ erwähnt das RVG in den §§ 16-18 Vergütungsverzeichnis; es definiert ihn aber nicht. Die Abgrenzung von unterschiedlichen Angelegenheiten wird der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage, § 15, Rn. 5).

Die anwaltliche Tätigkeit in derselben Angelegenheit muss danach aufgrund eines einheitlichen Auftrags erfolgen, sich im gleichen Rahmen halten, zwischen den einzelnen Handlungen und/oder Gegenständen einen inneren Zusammenhang haben und in der Zielsetzung übereinstimmen (vgl. Mayer/Kroiß, RVG, 8. Auflage, § 15, Rn. 2 – 4).

Gemessen an diesen Maßstäben liegt die Anwendbarkeit des § 15 Abs. 5 RVG hier nicht vor.

Mit Beschluss vom 16.12.2020 wurde Rechtsanwalt Pp. im Ermittlungsverfahren wie folgt bestellt: „Für die Dauer der Vernehmung wird dem Beschuldigten Rechtsanwalt Pp., Speyer, beigeordnet.“ Grund für die Beiordnung war der Ausgleich für den Ausschluss des Angeschuldigten während der Dauer der Vernehmung, sodass wenigstens für diesen einen Termin, sein beigeordneter Verteidiger seine Rechte wahrnehmen konnte, § 168c Abs. 3, Abs. 5 S. 2 StPO.

Der Vernehmungstermin fand am 28.01.2021 statt, Herr Rechtsanwalt Pp. war zugegen. Aus dem Protokoll dieser nichtöffentlichen Sitzung ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwalt Pp. mit einer sukzessiven Erweiterung des Auftrags rechnen konnte. So beantragte dieser nach Auftragserledigung mit Schriftsatz vom 02.02.2021 seine Vergütung festzusetzen, was letztendlich antragsgemäß mit Beschluss vom 06.04.2021 erfolgte.

Erst 3 Monate nach Beendigung seines Auftrags aus dem Bestellungsbeschluss vom 16.12.2020 wurde Rechtsanwalt Pp. mit Beschluss vom 21.04.2021 als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 1 StPO beigeordnet.

Schließlich ist es unerheblich, dass die „endgültige“ Beiordnung von Rechtsanwalt Pp. vom 21.04.2021, wie zuvor die Beiordnung für die Dauer der Vernehmung vom 16.12.2020, im Ermittlungsverfahren erfolgt sind. Es ist nicht schon deshalb dieselbe Angelegenheit, weil die Beiordnungen in demselben Verfahrensabschnitt (Vorverfahren) erfolgt sind. Vielmehr ist ausschlaggebend, dass die Beiordnungen mit anderen Zielsetzungen erfolgt sind. Zum einen wie angeführt, zum Ausgleich des Ausschlusses des Angeschuldigten für die erzwungene Abwesenheit des Angeschuldigten in der Vernehmung am 28.01.2021 und zum anderen zur weiteren Verteidigung für das gesamte Verfahren.

Durch die erneute Wiedereinarbeitung in den Sachverhalt, betrachtet aus der Perspektive eines vollumfänglich bestellen Pflichtverteidigers mit Wirkung ab 21.04.2021, wird ein größerer Aufwand verursacht, der die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG (nochmals) durchaus rechtfertigt.

Im Übrigen kann es sich schon deshalb nicht um dieselbe Angelegenheit handeln, da es andernfalls keiner erneuten Beiordnung für das gesamte Verfahren des Rechtsanwalts Pp. bedurft hätte.

Auch waren die Voraussetzungen des § 15 Abs. 6 RVG zu prüfen, wonach eine „Deckelung“ der entstandenen Gebühren in bestimmten Fällen vorzunehmen ist. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.

Voraussetzung hierfür wäre, dass der Rechtsanwalt lediglich mit einzelnen Handlungen oder Tätigkeiten beauftragt worden wäre, die eine Erstattungsfähigkeit allein der Gebühr Nr. 4301 VV RVG rechtfertigen könnte.

Zwar hätte der Wortlaut des Tenors des Bestellungsbeschlusses vom 16.12.2020 eine Einzeltätigkeit nahelegen können. Da die Bestellung des Rechtsanwalts jedoch nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO erfolgte, handelt es sich nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um eine Tätigkeit im Sinne von Teil 4 Abschnitt 1 der Anlage 1 des RVG mit der Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt die Grundgebühr, die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr verdient (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage, VV Nr. 4301, Rn. 15; so auch RVGreport 2017, 402-406 – § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO n. F.). § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO ist nicht auf das Ermittlungsverfahren beschränkt, sondern auf alle richterlichen Vernehmungen vor und nach Anklageerhebungen anzuwenden. Erfasst sind Zeugen-, Sachverständigen- u. Beschuldigtenvernehmungen, vgl. BeckOK StPO/Krawczyk § 140 Rn. 19.

Zudem besteht keine Streitigkeit darüber, ob im Rahmen der ersten Bestellung im Vorverfahren lediglich die Gebühr Nr. 4301 W RVG erstattungsfähig ist, sondern darüber, ob § 15 Abs. 6 RVG Anwendung findet.

Es bleibt daher vorliegend dahingestellt, ob dem beigeordneten Rechtsanwalt für Einzeltätigkeiten, die sich nach Nr. 4301 Nr. 4 W RVG bestimmen, nicht mehr an Gebühren erstattet werden können, die ein mit der gesamten Angelegenheit betrauter Rechtsanwalt für die gleiche Tätigkeit erhalten würde.

Der Erinnerung konnte aus den vorgenannten Gründen nicht abgeholfen werden. Die festgesetzten Gebühren und Auslagen des beigeordneten Rechtsanwalts sind entstanden und auch erstattungsfähig.“

Das AG – Schöffengericht – hat die Erinnerung sodann mit Beschluss vom 05.04.2023 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es „auf den Beschluss des Amtsgerichts Speyer vom 27.03.2022 verwiesen, dessen Gründen beigetreten wird.

Passt 🙂 .