Beweiswürdigung I: Sexueller Übergriff?, oder: das „ambivalente Verhalten“ der Nebenklägerin

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Beweiswürdigungsfragen spielen in der Praxis eine doch recht große Rolle. Das zeigt sich auch immer wieder in der Rechtsprechung des BGH, bei dem nicht selten Revisionen auch wegen tatrichterlicher Fehler bei der Beweiswürdigung Erfolg haben. Daher mache ich heute mal einen Tag mit drei Beweiswürdigungsentscheidungen.

Bei der ersten handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 StR 290/18. Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren wegen eines „sexuellen Übergriffs“. Dabei ist das LG von folgenden Feststellungen ausgegangen:

Der Angeklagte war Chefarzt einer klinischen Palliativabteilung. Dort war auch die Nebenklägerin als medizinische Fachangestellte beschäftigt. Zwar war sie dem Pflegedienstleiter und nicht dem Angeklagten unterstellt, gleichwohl kam sie seinen Anweisungen nach; ihm war es möglich, über die Pflegedienstleitung Einfluss auf ihre Tätigkeit, aber auch etwaige arbeitsrechtliche Maßnahmen wie z.B. eine Versetzung, zu nehmen.

Von 2015 bis Mitte Juli 2016 kam es zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin zu einvernehmlichen sexuellen Kontakten. Diese fanden jeweils am Arbeitsplatz statt. Dabei übte die Nebenklägerin auf sein Verlangen bei dem Angeklagten den Oralverkehr aus. Er trug dafür Sorge, nicht von Dritten überrascht zu werden, etwa indem er sich während des Oralverkehrs mit dem Rücken gegen die Zimmertür lehnte, um das Eintreten anderer zu verhindern. Innerlich lehnte die Nebenklägerin die sexuellen Kontakte ab, gab dies aber dem Angeklagten gegenüber nicht zu erkennen.

Am 20. Dezember 2016 befand sich die Nebenklägerin allein in ihrem Büro in einer Außenstelle, als der Angeklagte hinzukam. Während sie telefonierte, streichelte er sie im Nackenbereich und griff ihr unter das Oberteil. Als eine Kollegin der Nebenklägerin eintraf und im Büro telefonierte, veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin unter dem Vorwand, er wolle mit ihr wegen einer Abrechnungsfrage unter vier Augen sprechen, mit in die Küche zu gehen. Die Nebenklägerin folgte ihm, ging dabei aber davon aus, dass er erneut Oralverkehr von ihr wünschen würde. Der Angeklagte war sich bewusst, dass die Nebenklägerin wegen des vorgebrachten dienstlichen Grundes seinem Verlangen, mit ihm zu kommen, „kaum“ widersprechen konnte.

In der Küche stellte sich der Angeklagte mit dem Rücken zur Tür, so dass die Nebenklägerin an ihm hätte vorbeigehen müssen, um die Küche verlassen zu können. Sie stand schräg vor ihm und hielt demonstrativ ihre beiden Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Aufforderung des Angeklagten, „ihm einen zu blasen“, lehnte die Nebenklägerin mit der Begründung ab, sie habe einen Freund. Gleichwohl nahm der Angeklagte mit seiner Hand einen ihrer hinter dem Rücken verschränkten Arme und versuchte ihn nach vorne in Richtung seines Gliedes zu führen. Da er dabei nur wenig Kraft aufwendete, gelang ihm dies nicht, so dass die Nebenklägerin weiterhin ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt hielt.

Nachdem der Angeklagte sein nicht erigiertes Glied aus seiner Hose geholt hatte, „verlangte“ er von ihr mehrfach, sein Glied noch einmal zu küssen und in den Mund zu nehmen. Die Nebenklägerin erklärte, das nicht zu wollen, da sie einen Freund habe, was der Angeklagte zwar wahrnahm, aber auf sein Ansinnen dennoch „weiter verbal … drängte“. Er versicherte, dies sei das letzte Mal und danach werde er aufhören. Während dessen hielt er sein nicht erigiertes Glied in der Hand. Trotz ihres weiterhin entgegenstehenden Willens gab die Nebenklägerin seinem Glied einen Kuss und nahm es für ein bis zwei Sekunden in den Mund, wobei der Angeklagte „ihren entgegenstehenden Willen zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm“. Die Nebenklägerin beendete die von ihr ausgehende sexuelle Handlung und teilte dem Angeklagten mit, dass dies jetzt reiche. Er forderte von ihr ein Weitermachen, da er „jetzt aber müsse“, worauf die Nebenklägerin ihm entgegenhielt, dass er sich dann „einen runterholen“ müsse.

Schließlich zog sich der Angeklagte seine Hose wieder hoch, legte beide Hände auf die Schultern der Nebenklägerin und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf den Mund, wobei er für kurze Zeit mit der Zunge in ihren Mund eindrang und „ihren entgegenstehenden Willen zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm“.

Das LG hat den Angeklagten danach für überführt angesehen, die Nebenklägerin gegen ihren erkennbaren Willen veranlasst zu haben, sein Glied in den Mund zu nehmen und dies als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB gewertet. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

Zwar hat die Strafkammer festgestellt, dass der Angeklagte bei dem kurzzeitigen Oralverkehr den entgegenstehenden Willen der Nebenklägerin zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, sich aber zur Durchsetzung seiner Interessen darüber hinwegsetzte. Jedenfalls die dieser Feststellung zugrundeliegende Beweiswürdigung zur inneren Tatseite ist aber nicht in rechtlich tragfähiger Weise begründet.

a) Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 1996 – 2 StR 534/96, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26). Die Beweiswürdigung muss deshalb auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage unter vollständiger Ausschöpfung des verfügbaren Beweismaterials beruhen. Dies ist in den Urteilsgründen in einer dem Erfordernis der rationalen Nachvollziehbarkeit der Beweiswürdigung entsprechenden Weise darzulegen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Oktober 2013 – 4 StR 135/13, NStZ-RR 2014, 15 und vom 17. Juli 2007 – 5 StR 186/07, NStZ-RR 2008, 148, 149 f.). Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in die Beweiswürdigung einbezogen worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159; Miebach in MüKo-StPO, § 261 Rn. 108 mwN) und gezogene Schlussfolgerungen nicht lediglich Vermutungen sind, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 1996 – 2 StR 534/96, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26 und Urteil vom 27. April 2017 – 4 StR 434/16 Rn. 8).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die mitgeteilte Beweiswürdigung ist nicht erschöpfend.

Das Landgericht hat angenommen, dass durch die ablehnende Stellungnahme der Nebenklägerin zu dem angesonnenen Oralverkehr ihr entgegenstehender Wille offenbar geworden sei. Diese „dezidiert und nachhaltig geäußerte ablehnende Haltung“ der Nebenklägerin sei dem Angeklagten nicht verborgen geblieben. Nach den Gesamtumständen des Geschehens, wozu auch gehöre, dass er sie zuvor im Büro berührt habe, ohne dass sie auf seine Berührungen eingegangen sei, und dass sie durch „Kraftanwendung“ den Versuch des Angeklagten, ihre Hand an sein Glied zu ziehen, abgewehrt habe, ergebe sich, dass es der Angeklagte während der Berührung seines Gliedes durch die Nebenklägerin für möglich gehalten habe, dass sie ihr „Nachgeben“ als einen „Ausweg aus der sie bedrückenden Lage zur Beendigung seines sexuellen Bedrängens“ empfunden habe. Dem stünden auch die früheren einvernehmlichen Oralverkehre und der Umstand, dass sie ihm freiwillig in die Küche gefolgt sei, nicht entgegen.

Diese Erwägungen genügen angesichts des ambivalenten Verhaltens der Nebenklägerin nicht. Denn zwar hat sie objektiv wahrnehmbar zunächst ihre Ablehnung zum vorgeschlagenen Oralverkehr zum Ausdruck gebracht, aber sodann ohne Einwirkung von Zwang mit der Ausübung desselben begonnen. Für einen objektiven Dritten stellt sich dieses Verhalten bei losgelöster Betrachtung im eigentlichen Tatzeitpunkt nicht als ein Handeln gegen ihren Willen dar…………….“

 

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