Pflichti III: Keine fiskalischen Erwägungen bei der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Kostenargument mal anders

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Manchmal fragt man sich wirklich, was eigentlich von den Instanzgerichten an Rechtsprechung und Literatur eigentlich gelesen und/oder heangezogen wird. Wenn den Vorsitzende einer Berufungskammer des LG Berlin sich an der Stelle nur ein wenig (mehr) Mühe gemacht hätte, dann hätte er m.E. unschwer erkennen können – ja müssen -, dass seine Entscheidung zur Pflichtverteidigung falsch ist und der ganz h.M. in Rechtsprechung und Literatur widerspricht. Daher hat dann auch das KG später sein Urteil mit dem KG, Beschl. v. 06.01.2017 – 4 Ws 212/16 – 161 AR 190/16 – aufgehoben. Wenn man die Leitsätze liest, braucht man dazu nichts mehr zu sagen:

  1. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sind weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen.
  2. Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig.

Ich erspare mir, hier die Begründung des KG einzustellen. Die entspricht der in dieser Frage herrschenden Argumentation. Interessantes sind dann die Ausführungen des KG zur Argumentation des Vorsitzenden:

„Entgegen der Auffassung des Vorsitzenden der Berufungskammer ist bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Diese Auffassung, die von der im Nichtabhilfebeschluss zum Ausdruck gebrachten Bewertung getragen ist, die Berücksichtigung nur zu erwartender (also noch nicht rechtskräftig verhängter) gesamtstrafenfähiger Strafen führe zu „einem bei Mehrfachtätern – auch aus fiskalischer Sicht – nicht hinnehmbaren Ausufern des Instituts der notwendigen Verteidigung“, wird dem Grund und Wesen der notwendigen Verteidigung nicht gerecht. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält (vgl. BVerfGE 46, 202, 210; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214 = OLGSt StPO § 140 Nr. 31). Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, Rn. 1 mwN). Ebenso wenig, wie das Institut der notwendigen Verteidigung der finanziellen Versorgung von Rechtsanwälten dient, darf sich das Strafgericht bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung in erster Linie von fiskalischen Erwägungen leiten lassen (vgl. dazu auch Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2016 – 4 Ws 191/16 – [betreffend eine Entscheidung desselben Kammervorsitzenden]). Auch kommt nach der gesetzlichen Konzeption des § 140 Abs. 2 StPO eine einschränkende Rechtsanwendung unter unmittelbarer Anknüpfung an die strafrechtliche „Karriere“ eines Beschuldigten nicht in Betracht. Das Landgericht verkennt, dass nicht erst und ausschließlich dasjenige (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, in dem die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile auslöst; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.“

Rührend 🙂 ist immer die Sorge um die Staatskasse, hier die des Vorsitzenden. Zutreffend ist es, wenn  das KG das Argument: „Pflichtverteidigung dient nicht der finanziellen Versorgung der Rechtsanwälte“ nun umkehrt.

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